Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
zu machen, ordnete er auch sogleich an, Alexander W. ab sofort als Beschuldigten zu behandeln. Das war in meinem Sinne. Denn gegen Beschuldigte sind eine Reihe strafprozessualer Maßnahmen möglich, die gegen Tatverdächtige, die sich noch im Zeugenstatus befinden, nicht möglich sind: Festnahmen, Durchsuchungen, Telefonüberwachung, Blutentnahmen usw. Andererseits hatten Beschuldigte natürlich weitreichendere Rechte. Sie können die Aussage verweigern und dürfen lügen. Aber das hat Alexander W. als Zeuge auch schon getan.
Wir überlegten, ob wir ihn gleich überrumpeln und mit dem Ergebnis konfrontieren sollten, entschieden uns dann aber dafür, erst Alexanders Blutgruppe feststellen zu lassen und lieber subtil vorzugehen. Da er kein Telefon besaß, schickten wir einen Beamten der zuständigen Inspektion zu ihm und ließen ausrichten, er solle sofort zur Dienststelle kommen. Das funktionierte, und eine Stunde später war er da. Worauf diese Beflissenheit zurückzuführen war, war mir noch nicht ganz klar. War es Obrigkeitshörigkeit? Kaum. Denn er trat eigentlich sehr
selbstbewusst auf. Oder Neugierde? Schon eher. Angst vor der Überführung? Für mich am naheliegendsten.
Ich tat recht geheimnisvoll. Meine Absicht war, den Eindruck zu erwecken, als ob uns der große Durchbruch gelungen wäre. Er sollte zumindest nervös und verunsichert werden. Also eröffnete ich ihm, dass er ab sofort Beschuldigter sei. Die Wirkung war gleich null. Er nahm es zur Kenntnis, als sei es ohne jede Bedeutung für ihn. Er verzichtete sogar auf sein Aussageverweigerungsrecht, hielt nicht das Geringste von einem Anwalt und erklärte frech, er stehe für weitere Fragen jederzeit zur Verfügung. Seine bisherigen Angaben, die er als Zeuge gemacht habe, halte er in vollem Umfange aufrecht, sie könnten auch zum Gegenstand seiner Beschuldigtenangaben gemacht werden. Mit anderen Worten: Er sei für die Bluttat an Frau Christine S. nicht verantwortlich, habe nichts zu verbergen und damit auch nichts zu befürchten. Punkt.
Ich fasste es nicht. War der so oder tat er nur so? Er verhielt sich wie ein wirklich Unschuldiger. Natürlich wusste ich, dass man bei psychisch auffälligen Tätern andere Maßstäbe anlegen muss, aber er war ja keiner, der irgendwelche Stimmen hörte oder irgendeinem Wahn folgte, sondern er war im Vollbesitz seiner intellektuellen Fähigkeiten. Er wusste, was er tat und sagen musste.
Er sollte schmoren und nervös werden. Ich ließ ihn zum Institut für Rechtsmedizin bringen, wo er sich bereitwillig Blut abnehmen ließ. Unmittelbar danach sollten ihn die Kollegen entlassen, wobei sich vor dem Gebäude schon Observationskräfte postiert hatten, die ihn übernahmen. Leider ohne Erfolg. Er fuhr geradewegs in sein Hexenhäuschen zurück und verließ es die ganze Nacht nicht mehr.
Am späten Vormittag des nächsten Tages lag das Ergebnis aus dem Labor vor. Es machte nicht nur mich sprachlos. Ich wollte nicht glauben, was mir die Dame aus dem Institut für Rechtsmedizin durchsagte: Alexander W. hatte dieselbe seltene Blutgruppe wie unser Opfer, nämlich AB Rhesus negativ. Aber nicht nur das: Aufgrund der geringen Blutmenge an der Jacke waren die Untergruppen nur bis ins vierte Glied zu analysieren. »Das gibt’s doch nicht!«, rief ich, als sie ergänzte, dadurch könne das Blut an der Jacke sowohl von Christine S. als auch von ihm selbst sein oder sogar von einer dritten Person. Nur wenn noch mehr Untergruppen hätten analysiert werden können, hätte es irgendwann eine Abweichung gegeben. Aber wie gesagt, dazu war die Blutmenge an der Jacke zu gering.
Ich sah trotz dieser niederschmetternden Nachricht noch eine letzte Chance. »Ich werde bluffen«, nahm ich mir vor. Die kriminalistische List ist schließlich erlaubt. Nur die Täuschung ist verboten. Und die Lüge natürlich. Aber das hatte ich auch nicht vor. Ausschließlich eine Sache der Formulierung bzw. Fragestellung. Ich entschied mich für die sogenannte Überrumpelungsmethode, ausgehend von der Überzeugung, dass er mit Sicherheit angstvoll zu Hause sitzen und darauf warten würde, was auf ihn zukäme.
Alexander W. hatte noch nicht ausgeschlafen, als ein Streifenwagen direkt vor sein Hexenhaus vorfuhr. Mit dem Vermieter war vereinbart worden, dass er das Zufahrtstor in den frühen Morgenstunden öffnete, wozu der sehr gerne bereit war. Nichts wäre dem jungen Ehepaar lieber gewesen als die Verhaftung ihres schwierigen Mieters.
Die beiden großgewachsenen
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