Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
hundert Meter gegen den Wind« ansehen würde. Für verdeckte Ermittlungen war ich also nicht geeignet.
»Sind Sie Herr W.?«
»Ja.«
»Dürfen wir reinkommen, wir hätten ein paar Fragen an Sie?«
»Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«
Ganz schön frech, dachte ich mir. Dabei stand ihm die blanke Angst im Gesicht, als er die imposante Erscheinung meines Kollegen von oben bis unten musterte. Mich, den Normalo, schien er gar nicht wahrzunehmen.
»Wieso? Brauchen wir denn einen?«, fragte ich scheinheilig. »Eigentlich wollten wir nur mit Ihnen reden.«
»Dann möchte ich Sie bitten, mir zu sagen, worum es geht.«
»Dürfen wir jetzt reinkommen, oder fahren Sie lieber mit zur Dienststelle?«
»Ja gut, kommen Sie herein.«
Wir betraten den ca. 15 Quadratmeter großen Raum. Ein großer Holztisch in der Mitte, auf dem eine Menge Bücher, Schreibmaterial und allerlei Papierkram lagen. Ein Holzstuhl, über dem eine Jacke hing. Eine kleine Küchenzeile. Ein Bücherregal. Ein Kleiderschrank. Ein Bett. Das war’s. Karg, einfach, aber sauber.
Wir schauten uns um, und er schaute uns erwartungsvoll an.
»Wir hätten gerne unser Fahndungsplakat wieder, das Sie in der Uni abgerissen haben«, begann ich ganz plötzlich, stellte mich dicht vor ihm auf und schaute ihm direkt in die Augen. Er wich meinem Blick aus und lief
hochrot an. Er war überrumpelt und hatte keine Zeit zum Überlegen. Spontan antwortete er: »Das habe ich weggeworfen.«
»Wo genau? Vielleicht finden wir es ja wieder.«
»In irgendeine Mülltonne. Wo genau, weiß ich nicht mehr.«
Aha, dachte ich, Lüge. Wenn er es noch hätte, könnte er es uns jederzeit geben, das würde ja an seiner Lage nichts ändern. Und wenn er es weggeworfen hätte, müsste er noch wissen, wo. Aber warum will er uns das nicht sagen?
»Wieso wissen Sie nicht mehr, wo Sie es weggeworfen haben? Das können Sie doch nicht vergessen haben, es war doch erst vor ein paar Stunden.«
»Ich habe es in irgendeinen Müllcontainer geworfen auf dem Weg zwischen Schwabing und meiner Wohnung hier, und ich weiß beim besten Willen nicht mehr, in welchen.«
»Sicher können Sie uns erklären, warum Sie es abgerissen haben.«
»Weil ich nicht in Verdacht geraten wollte und will, die gesuchte Person zu sein.«
»Sie meinen also, das Phantombild ähnelt Ihnen?«
»Nein, das nicht. Es ist mir überhaupt nicht ähnlich, wie Sie ja sicherlich längst schon selbst festgestellt haben. Aber es zeigt einen jungen Mann mit schütterem Haar, und damit stimmt es in den wesentlichsten und augenfälligsten Merkmalen mit meiner Person überein und könnte die Leute auf den Gedanken bringen, dass ich die gesuchte Person sein könnte. Deshalb habe ich es entfernt.«
»Es ist aber nicht erlaubt und kann eine Sachbeschädigung darstellen«, fuhr ich fort.
»Ich sehe es als Verletzung meiner Persönlichkeitsrechte, und deshalb habe ich in Notwehr gehandelt.«
»Donnerwetter! Studieren Sie Jura?«, fragte ich.
»Nein, Germanistik. Aber momentan ruht mein Studium, weil ich in einer schwierigen psychischen Phase bin.«
»Wie das?«, fragte ich.
»Ich habe sehr große Konzentrationsschwierigkeiten. Ständig sind meine Gedanken in Unruhe, ständig bin ich gedanklich abgelenkt, und je mehr ich versuche, mich zu konzentrieren, desto weniger gelingt es mir.«
»Haben Sie ärztliche Hilfe?«
»Ich habe schon einige Neurologen und Psychiater konsultiert, aber niemand konnte mir bislang wirklich helfen.«
»Haben Sie das Fahndungsplakat gelesen?«
»Nur flüchtig.«
»Es hat sie nicht interessiert, was dieses Phantom verbrochen hat?«
»Wegen irgendeines Überfalles auf eine Frau. Genau habe ich es nicht gelesen.«
»Haben Sie gelesen, dass die Frau Studentin war?«
»Nein, wie gesagt, ich habe es nicht genau gelesen.« Lüge, dachte ich. »Was glaubten Sie denn, warum das Plakat ausgerechnet in der Uni aushängt?«
»Damit habe ich mich gedanklich nicht auseinandergesetzt.«
»Sie lesen die Süddeutsche Zeitung , sehe ich.« Auf dem Tisch lag die heutige Ausgabe.
»Nicht täglich, nur gelegentlich. Ich habe auch kein Abonnement.«
»Das Phantombild war auch in der Süddeutschen abgebildet,
und über das Verbrechen wurde mehrfach ausführlich berichtet. Außerdem ist es unter Studenten Tagesgespräch gewesen. Das alles wollen Sie nicht mitbekommen haben?«
»Ich sagte schon, dass mein Studium ruht. Deshalb habe ich derzeit keine Kontakte zu meinen Kommilitonen.«
»Und was haben Sie dann heute
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