Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
gäbe niemand aus ihrem familiären Umfeld oder aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis, der auf sie eifersüchtig sein könnte oder der einen Grund habe, ihr so etwas anzutun.
Das Phantombild, das der Zeichner gefertigt hatte, löste bei ihr keine spontane Reaktion aus, wie beispielsweise den Ausruf: »Genau so sah er aus« oder »Das ist er«. Ein schlechtes Zeichen. Denn Phantombilder sind nur sinnvoll, wenn sie auch wirklich gut sind. Und ob sie
gut sind, hängt wiederum von der Beobachtungs- und Wiedergabefähigkeit der jeweiligen Zeugen ab. Andernfalls sind sie eher kontraproduktiv und können in völlig falsche Richtungen führen. Irgendwie stimmten die Haare nicht, meinte sie. Die Glatze sei zwar genau wie auf dem Bild dominierend gewesen, aber der Haarkranz sah irgendwie anders aus. Aber wie, wisse sie auch nicht. Es sei mehr ein Gefühl. Damit beließ man es bei der Zeichnung. Besser als nichts, hieß es. Was sich einerseits als nachteilig, andererseits aber als hilfreich erweisen sollte. So zwiespältig kann eben nur Kriminalistik sein.
Die Überprüfung des Umfeldes des Tatopfers hatte nichts erbracht außer der Gewissheit, dass es sich bei Brigitte R. um ein Zufallsopfer handeln musste. Was auch denkbar war in einem Wohnhaus dieser Größenordnung, in dem aufgrund der starken Fluktuation Fremde nicht auffallen und sich die Bewohner kaum kennen. Bis zum Jahresende kamen wir aber zu keinem konkreten Verdacht und auch nicht mehr zum Verschnaufen. Denn neben dem Mordversuch an Christine S. gab es noch eine Reihe weiterer Tötungsdelikte mit unbekannter Täterschaft, die noch nicht geklärt waren. Ein verflixtes Jahr, in dem wir weit unterhalb der sonst üblichen Aufklärungsquote von mindestens 90 Prozent bleiben würden.
Hunderte von Personen wurden überprüft, Dutzenden von Hinweisen war nachgegangen worden - ohne Ergebnis. Das mehrfach veröffentlichte Phantombild hatte zu zahlreichen Hinweisen auf verdächtige Personen geführt, was wohl daran lag, dass es anscheinend mehr Männer mit Vollglatze gab, als ich mir bis dahin vorstellen konnte. Das ging schließlich so weit, dass mir jeder Mann sofort ins Auge stach, der mir auf der Straße oder in der
U-Bahn begegnete und den nur noch ein dürftiger Haarkranz zierte. Nicht wenige hatte ich angehalten, mit zur nächsten Polizeiinspektion genommen und überprüft. Einige Male gab es auch Probleme bis hin zu Widerstandshandlungen.
Die Spurensicherung hatte keine einzige tatrelevante Spur finden können: keine Fingerspuren, kein fremdes Blut, keine Messer, keine detailliertere Personenbeschreibung. Nur eine Tränengasspraydose hatte der Täter zurückgelassen. Ohne Fingerabdrücke. Vermutlich hatte er Handschuhe getragen. Bei der Dose selbst handelte es sich um eine Allerweltsmarke, die es in jedem Fachgeschäft zu kaufen gab. Das war besser als nichts. Im Zusammenhang mit dem Phantombild hätten ja Hinweise aus einem Waffengeschäft kommen können. Was aber leider nicht der Fall war. Wir hatten also nichts, mit dem man einen zu Überprüfenden hätte ausscheiden oder überführen können und waren auf die klassischen kriminalistischen Methoden angewiesen. Also auf Hinweise aus der Bevölkerung, langwierige Alibiüberprüfungen, Überprüfungen des Leumunds und des Umfeldes, das sogenannte kriminalistische Gespür und die Vernehmungskunst. Wieder und wieder durchstreiften wir viele Stunden lang das Olympiadorf, hielten die Augen offen, sammelten Hinweise und gingen diesen nach. Es gab zwar interessante Spuren, die das berühmte Aha-Erlebnis auslösten, aber genauso schnell folgte jedes Mal wieder die Enttäuschung. Da begriff ich, dass Mordermittlungen mitunter einer Berg- und Talfahrt gleichen, ohne dass man weiß, ob der Zielbahnhof - sofern man ihn je erreicht - am Berg oder im Tal liegen wird. Und so ging das Jahr zu Ende, und vom Täter fehlte noch immer jede Spur.
Zum Jahreswechsel hatten die Medien ausführlich über die bislang noch ungeklärten Mordfälle in München berichtet und im Hinblick auf die schlechte Aufklärungsquote die Frage aufgeworfen: »Was ist los bei der Mordkommission?« Jedenfalls wurden im Rahmen dieses Jahresrückblickes auch Fotos von Opfern und verschiedene Phantombilder veröffentlicht. Darunter auch unseres. Und wieder gingen Hinweise ein. Aber diesmal waren zwei darunter, die nicht nur mich elektrisierten, sondern auch meine Kollegen in helle Aufregung versetzten. Beide Hinweise betrafen nämlich ein und dieselbe
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