Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
Jeder Satz, den er von sich gab, war druckreif. Er achtete strikt darauf, dass ich der Protokollführerin den Wortlaut 1:1 in die Maschine diktierte. Die geringste Abweichung wurde sofort reklamiert, mit der Bemerkung, das sei nicht korrekt wiedergegeben und müsse abgeändert werden. Er nervte mich so lange, bis ich ihm sagte, er solle seine Antworten gefälligst selber diktieren. Das tat er dann auch. Zum Leidwesen der Protokollführerin und auch meiner Person. Denn seine Sätze wurden immer länger und länger, und schließlich bildete er nur noch Schachtelsätze, die kein Normalbegabter wie ich mehr verstehen konnte. Irgendwann hatte ich die Nase voll. Und so kam es zum ersten Kräftemessen: »Hör zu! Für diesen Satz kriegst du Note 6. Jeder Deutschlehrer würde sie dir geben. Das versteht doch kein Mensch, was du hier für einen Mist zusammendiktierst. Und du willst Germanistik studieren? Was hast du eigentlich in Deutsch gehabt?«
Das hatte gesessen. Ich hatte seine Ehre angekratzt. Entsprechend reagierte er. Er schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch, sprang auf, beugte sich in meine Richtung und wurde erstmals richtig laut. Er konnte also ausrasten. Das war eine interessante Erkenntnis. Aus dem Nickelbrillen tragenden Studentchen war plötzlich ein scheinbar selbstbewusster, aggressiver junger Mann geworden. Wobei mir klar war, dass dieses zornige Bürschchen extrem gefährlich sein dürfte. Schließlich verdächtigte ich ihn einer schweren Gewalttat.
Er schrie mich an: »Das können Sie gar nicht beurteilen, Herr Wilfling! Ich bezweifle, dass Sie den nötigen Intellekt besitzen, um mich korrigieren zu können. Haben
Sie überhaupt Abitur? Ich muss mir solche Kritik von einem wie Ihnen nicht gefallen lassen!«
»Natürlich bin ich nicht so intelligent wie du. Wie könnte ich auch? Ich bin ja schließlich nur ein dummer Polizist. Aber wenn schon ein dummer Polizist wie ich bemerkt, dass deine Sätze grammatikalischer Schrott sind, weil sich niemand, der einigermaßen Deutsch kann, so ausdrücken würde, dann sollte dir das zu denken geben, Mister Superschlau.«
Er gab sofort nach und wurde ruhiger. Mit dieser spontanen Gegenwehr hatte er offensichtlich nicht gerechnet. Zumindest bemühte er sich einige Zeit, kürzere Sätze zu formulieren, die auch tatsächlich etwas verständlicher waren, aber nicht sehr.
Er schilderte, dass er nach München gekommen sei, um möglichst weit weg vom Elternhaus in Norddeutschland zu sein. Er wollte frei sein, sein eigenes Leben aufbauen. Anfangs klappte das ganz gut. An der Uni machte er Fortschritte, das Studium machte ihm Spaß. Bis er sich plötzlich nicht mehr richtig konzentrieren konnte. Er wisse nicht, warum. Derzeit ruhe sein Studium. Er beziehe Sozialhilfe, komme gut damit zurecht. Wegen Konzentrationsstörungen sei er in ambulanter ärztlicher Behandlung, aber bislang habe er keine Besserung erfahren.
Zum Olympiagelände habe er keinen Bezug. Dort sei er noch nie gewesen. Auch nicht in der dortigen Disco oder sonstigen studentischen Einrichtungen. Das sei ohnehin nicht sein Fall. Er habe zu niemandem näheren Kontakt, lese viel und suche tagsüber vor allem Bibliotheken auf, um sich hinsichtlich seiner Krankheit fortzubilden. Nur wenn er die Ursache kenne, würde er wieder in der Lage sein, ein normales Leben führen zu können.
Bislang habe er sich seine Unterkünfte immer selbst gesucht. Da es ihm aber meist zu laut war, sei er innerhalb Münchens schon ein Dutzend Mal umgezogen. Dadurch verbrachte er einen Großteil seiner Zeit mit Wohnungssuche. Da er weder ein Auto noch einen Führerschein habe, bewege er sich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Nein, eine Monatskarte habe er sich in diesem Monat noch nicht besorgt, deshalb könne er auch keine vorzeigen.
Abends sei er spätestens bei Anbruch der Dunkelheit zu Hause. Er gehe nicht weg, besuche keine Lokale und gehe nicht ins Theater oder Kino. Eine feste Freundin habe er noch nicht, zu Hause habe er aber schon Mädchen näher gekannt. Sein Verhältnis zu Frauen würde er dennoch als ganz normal bezeichnen. Er habe mit niemandem in München Kontakt, lebe völlig alleine. Das sei ihm auch recht so, er wolle gar keine Bekanntschaften.
Er trinke nicht, rauche nicht, lebe spartanisch. Seine Welt seien die Bücher. Demnächst hoffe er, sein Studium wieder aufnehmen zu können, dann sähe es wieder anders aus. Er habe noch nie Waffen besessen, wüsste damit auch gar nichts anzufangen. Er sei
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