Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
lassen. Es war zum Verzweifeln! Aber Aufgeben kam natürlich nicht in Frage, und so überlegte ich den nächsten Schritt.
Christine S. und ihre Mutter waren natürlich laufend über den Fortgang der Ermittlungen informiert worden und wussten auch von meinem Tatverdacht. Bei einer Lichtbildvorlage konnte Christine Alexander W. nicht identifizieren. Sie meinte zwar, dass er es durchaus hätte gewesen sein können, aber sie könne es eben nicht mit der Sicherheit sagen, die erforderlich war, um doch noch einen Haftbefehl gegen ihn zu bekommen. Aber immerhin war sie nun zu einer persönlichen Konfrontation bereit. Wir beabsichtigten, Christine S. als Schreibkraft zu tarnen und Alexander zur Vernehmung vorzuladen. Weil wir wissen wollten, wie er reagiert, wenn er sie wiedersieht - falls er sie wiedererkennen würde.
Alles war vorbereitet. Christine S. saß am Schreibautomaten,
war eingewiesen und sollte nichts anderes tun, als ihn beobachten. Ich würde ein Vorgespräch mit ihm führen, und sie solle nach einigen Minuten das Zimmer verlassen, so als ob sie zur Toilette ginge.
Ohne zu murren war Alexander W. pünktlich wie immer bei der Dienststelle erschienen. Ich saß in meinem Büro an meinem Schreibtisch, als er hereingeführt wurde. Er schaute mich an, grüßte und schaute zu Christine S. Verdammt, dachte ich, wenn die bloß nicht so blass wäre. Man sah ihr an, dass sie unglaublich aufgeregt war.
»Hallo, Alexander«, sagte ich. »Setz dich bitte. Das ist übrigens Frau Aberl, eine neue Schreibkraft.« Dann fügte ich lachend und ihr aufmunternd zunickend hinzu: »Sie ist noch ein bisschen nervös, weil sie heute zum ersten Mal bei einer Vernehmung schreibt.«
Christine S. und auch Alexander W. quälten sich ein mühsames, verlegenes Lächeln ab, und ich versuchte seinem Gesichtsausdruck zu entnehmen, ob sich Verlegenheit, Angst oder wenigstens Nervosität ablesen ließen, aber ich vermochte es nicht zu sagen.
Schon nach drei Minuten stand Christine S. auf und verließ den Raum. Ich unterbrach die Vernehmung und ging ebenfalls hinaus. Sollte Alexander W. unser Spielchen durchschaut haben? Falls ja, wäre es mir auch recht gewesen. Eigentlich muss er ja gewusst haben, wer sie war, immerhin war er zweifelsfrei der Täter. Konnte es sein, dass auch er sie nicht wiedererkannte? Sie hatte sich äußerlich nicht sehr verändert und trug dieselbe Frisur wie damals und auch bewusst zumindest ähnliche Kleidung.
Christine S. war kreidebleich. Obwohl sie gar nicht wusste, ob das der Mann war, der sie niedergestochen
hatte. Sie hatte zwar »etwas gespürt« sagte sie, und noch nie seit dem Vorfall sei sie wieder so unruhig, innerlich angespannt und voller Angst gewesen wie in diesem Moment, sodass sie es durchaus für möglich hielt, dass er es gewesen sein könnte. Aber sie konnte es nicht beschwören. Vor allem die Haare habe sie anders in Erinnerung. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Das Phantombild hatte zwischenzeitlich die Erinnerung an den Täter überlagert. Anders ausgedrückt: Das Phantombild hatte das reale Bild des Täters, das bei ihr abgespeichert war, im Laufe der Zeit überdeckt. Mehr und mehr hatte sich ihre Vorstellung vom Aussehen des Täters dem Phantombild angeglichen. Wieder mussten wir Alexander W. auf freien Fuß setzen.
Dann kam mein Osterurlaub. Er passte mir gar nicht ins Konzept. Aber schließlich war ich nicht nur mit meinem Beruf verheiratet, sondern auch noch mit einer Frau aus Fleisch und Blut und die freute sich nun einmal auf unseren Badeurlaub in Kroatien. Und so gingen zwölf Tage von insgesamt 14 geplanten Tagen vorbei. Täglich las ich am Strand die einzige dort erhältliche deutsche Zeitung mit den vier Buchstaben. Am vorletzten Tag geschah es dann. Ein Artikel in der Zeitung veranlasste mich zuerst zu einem Aufschrei und dann zur Verkündung der vorzeitigen Rückreise am nächsten Morgen. Trotz des Protestes meiner Frau.
Aus der Zeitung sah mich nämlich Alexander W. an. Und zwar in Form eines Phantombildes. Aber eines, das wie eine Fotografie war und mich zu dem Ausruf veranlasst hatte: »Das ist doch der W.!« Er war es, wie ein sofortiger
Anruf bei der Dienststelle bestätigte. Ich wollte fast nicht glauben, was ich zu hören bekam.
Im Sozialamt der Stadt München am Orleansplatz war eine Bombe deponiert worden. Und zwar in einer Damentoilette. Es war ein scharfer Sprengsatz mit enormer Wirkung. Dass er nicht losgegangen ist, war der frühzeitigen Entdeckung
Weitere Kostenlose Bücher