Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
wenn er wieder zuschlägt? Und nachdem mit der Ablehnung des Haftbefehls auch die Veröffentlichung eines Lichtbildes von ihm ausgeschlossen war - aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und der in unserem Lande so bedeutungsvollen Unschuldsvermutung - würde ich mir halt etwas anderes einfallen lassen müssen.
Alexander W. kehrte in seinen Alltag zurück, und die Tage gingen dahin. Da ich mir nicht vorstellen konnte, dass er ausgerechnet im riesigen Olympiadorf nie auf Wohnungssuche gewesen war, entschloss ich mich für eine großangelegte Befragungsaktion. Überall im ganzen Stadtgebiet hatte er sich herumgetrieben, nur das Olympiagelände war wie ein weißer Fleck auf seiner Wohnungslandkarte. Also gingen wir dort zum Klinkenputzen. Von Haus zu Haus und von Tür zu Tür. Dabei zeigten wir sein Lichtbild vor und hofften, dass sich jemand an ihn erinnern konnte. Es war zermürbend. Niemand konnte einen konkreten Hinweis geben.
An einem dieser Nachmittage machten wir erschöpft Pause und gönnten uns im »Dorfkrug« eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen. Wir waren zu viert unterwegs an diesem Tag. Wie Hausierer. Durch ein großes Fenster konnte ich nach draußen sehen. Plötzlich ging Alexander W. vorbei. Er trug seine beige Jacke, hatte die Hände tief in den Taschen vergraben und schaute sich ständig um, während er mit wippendem Schritt zügig vorbeilief. Ich rief: »Da ist er!«, und rannte nach draußen. Meine Kollegen wussten zwar nicht, was in mich gefahren war, folgten mir dann aber. Alexander W. war bereits etliche Meter entfernt, und weil er sich umschaute, sah er mich und fing an zu laufen. Er wollte vor mir flüchten. Ich verkürzte den Abstand auf ca. zehn Meter und schrie: »Alexander, bleib stehen! Ich bin’s, Wilfling.«
Er hörte mich und verlangsamte sein Tempo. Er wusste offensichtlich nicht, ob er so tun sollte, als habe er mich nicht gehört. Als ich nochmals nach ihm rief, blieb er dann doch stehen.
»Was machst du da?«, schnaufte ich.
»Nichts«, sagte er, und zum ersten Mal war es kein ganzer Satz, den er von sich gab.
»Ich dachte, du warst noch nie hier?«
»Ich bin heute zum ersten Mal im Olympiagelände«, antwortete er, diesmal wieder in einem ganzen Satz.
Inzwischen waren meine Kollegen eingetroffen und staunten, als sie ihn sahen. Sie umringten ihn und mich und schirmten uns vor den neugierigen Blicken der Leute ab, die inzwischen aufmerksam geworden waren.
»Das glaubst du doch selber nicht«, raunzte ich ihn an. »Warum bist du hier?«
»Weil ich sehen wollte, wo das passiert ist und weswegen Sie mich verdächtigen. Es hat mich einfach interessiert, mehr nicht.«
Ich kochte innerlich. Dem fällt einfach auf alles eine Antwort ein. Und das Schlimme ist, dass die Antworten so durchsichtig, so unglaubhaft und trotzdem nicht zu widerlegen sind. Zumindest nicht auf Anhieb.
»Ach so, du bist also bloß ein bisschen spazieren gegangen, oder? Was hast du eigentlich in deinen Taschen?«, fragte ich und begann ihn zu durchsuchen. Bereitwillig breitete er die Arme aus, und ich griff in seine Jackentaschen, in denen er vorher seine Hände vergraben hatte. Und ich wurde fündig. In der linken Jackentasche steckte eine Tränengasspraydose. Ich zog sie heraus und schaute triumphierend. Sie war offensichtlich ganz neu, und es war eine andere Marke als diejenige, die bei der Tat verwendet worden war. Bevor ich etwas sagen konnte, meinte er: »Diese Tränengasspraydose habe ich mir zu meinem eigenen Schutz zugelegt. Sie ist ganz neu.«
Ich war am Ende. Die Antwort auf die Frage, vor wem oder was er sich schützen müsse, konnte ich mir selbst
zusammenreimen: vor den gefährlichen Leuten in dieser gefährlichen Gegend. Wir fuhren zur Dienststelle, wo ich ihn noch einmal mehrere Stunden zu überzeugen versuchte, dass der Zeitpunkt gekommen sei, die Wahrheit zu sagen. Ich baute ihm eine goldene Brücke nach der anderen, aber er wollte keine überschreiten. Statt dessen beklagte er sich immer wieder über seine psychischen Probleme und darüber, dass er nirgends Hilfe finden würde, weil alle Ärzte Ignoranten seien.
Die Tränengasspraydose hatte er tatsächlich am Tag vorher in einem renommierten Waffengeschäft am Stachus erworben. Der Verkäufer konnte sich sogar noch an den »jungen Mann mit der wilden Frisur« erinnern, allerdings auch daran, dass er ihn vorher noch nie gesehen hatte. Hier konnte er also die Tatwaffe nicht gekauft haben. Wieder mussten wir Alexander W. laufen
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