Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
mir berichtet wurde,
schien die Exploration mehr einer Diskussion zu gleichen, bei der der Patient alles besser wusste als der Arzt.
Der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, Alexander W. leide unter einer schweren krankhaften seelischen Störung, wobei aber seine Schuldfähigkeit im gesamten Tatzeitraum weder eingeschränkt noch aufgehoben gewesen sei. Insgesamt sei er eine dissoziale Persönlichkeit mit paranoiden, stark narzisstischen Zügen, unfähig, sich in die Gesellschaft einzufügen. Das Urteil: Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Klinik auf unbestimmte Zeit.
Als ich etwa ein Jahr später in anderer Sache im Hochsicherheitstrakt dieser Psychiatrischen Klinik zu tun hatte, in der Alexander W. untergebracht war, suchte ich ihn auf. Ich erschrak, als ich ihn sah. Das war nicht mehr der Alexander W., wie ich ihn kannte, sondern ein Zombie. Mit roboterartigen Bewegungen kam er daher und blickte mich mit leeren Augen an. Ich weiß heute noch nicht, ob er mich erkannt hat. Wahrscheinlich nicht. Denn außer dass er »Guten Tag« sagte, sprach er kein Wort. Er war völlig apathisch. Vermutlich war er bis unter die Haarspitzen vollgepumpt mit irgendwelchen Psychopharmaka. Ruhig gestellt, nennt man das wohl.
In den Jahren 2002/2003 wurde an der Universität Essen zum Thema »Geständnismotivierung« ein Forschungsvorhaben durchgeführt, in dessen Rahmen die Wissenschaftler auch den Fall Alexander W. einbezogen und zu dem auch ich ausgiebig befragt worden war. Das Ergebnis war für mich verblüffend. War ich doch bis dahin davon ausgegangen, der ausschlaggebende Punkt,
warum Alexander W. doch noch ein umfassendes Geständnis abgelegt hatte, seien die von mir in Aussicht gestellten guten Ärzte gewesen, die er zu bekommen hoffte, würde er erst einmal in amtlicher Verwahrung sein. Ich sollte eines Besseren belehrt werden. Der wahre Grund war, dass er mich nicht verlieren wollte. Man stelle sich das vor! Im Laufe der Zeit soll ich für ihn mehr und mehr zu einer Bezugsperson geworden sein. Die einzige, die er je hatte, respektierte und mit der er reden konnte. Wenn auch nur über sich selbst. Und jetzt kommt das Verrückte: Weil ich Anstalten gemacht hätte, den Kontakt zu ihm abzubrechen, habe er gestanden. Weil er in einem Geständnis die einzige Möglichkeit gesehen habe, den Kontakt zu mir zumindest noch eine Zeit lang aufrechterhalten zu können. Also beschenkte er mich mit seiner umfassenden Lebensbeichte. Ein für mich hoch interessantes Ergebnis, das sich in den kommenden Jahren übrigens mehrfach bestätigen sollte. Eine gute Vertrauensbasis und eine von gegenseitiger Achtung getragene Beziehung zwischen Ermittlern und Tatverdächtigen sind die Schlüssel jedes Geständnisses. Auch wenn man es mit noch so schrecklichen Verbrechern zu tun hat. Niemals darf man ihnen ihre letzte Würde nehmen. Ich muss gestehen, dass ich das damals so noch nicht gesehen hatte.
Alexander W. konnte trotz anfänglichen Verfalls zumindest einigermaßen wiederhergestellt werden. Er lebt heute wieder auf freiem Fuß, allerdings in einer offenen Einrichtung für seelisch instabile Menschen in Norddeutschland. Auf freiwilliger Basis. Zu einem normalen Leben in unserer Gesellschaft wäre er noch immer nicht fähig und wird es wohl auch niemals mehr werden. Seit vielen Jahren unterhält er eine eheähnliche Beziehung zu
einer Mitpatientin. Ich gehe davon aus und würde es ihm auch wünschen, dass er zwischenzeitlich auch das getan bzw. gefunden hat, weswegen er über eineinhalb Jahre lang eine Vielzahl schlimmer Verbrechen begangen hat - bis er, angeblich um mir einen Gefallen zu tun, gesagt hat: »Ja, ich war’s.«
GEMEINGEFÄHRLICH
Die Krankenschwester zitterte wie Espenlaub. Der Mann vor ihr war zwar nicht groß, aber er hatte ein Messer und wirkte entschlossen. »Los«, zischte er, »nimm mir Blut ab, oder ich steche dich ab!« Er hielt ihr eine Spritze hin. Mein Gott, woher weiß der, dass ich Krankenschwester bin, schoss es ihr durch den Kopf. Sie nahm die Spritze und stach mit zitternden Händen in die Armvene, die er ihr hinhielt, als wäre er bei der Blutentnahme im Arztzimmer. Stattdessen standen sie hier in der kalten Herbstnacht auf offener Straße. Ein Wunder, dass es klappte, so aufgeregt wie die junge Frau war. Sie war zwar direkt von der Arbeit im Krankenhaus Schwabing gekommen, aber sie hatte nicht bemerkt, dass ihr jemand gefolgt sein könnte. Wie immer hatte sie ihr Fahrrad im riesigen Gelände
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