Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
lachen musste. Besonders über das fassungslose Gesicht meines Kollegen, der ja nicht wusste, dass es sich um ein Placebo handelte.
Noch nie vorher hatte ich einen Beschuldigten erlebt, der ein so phänomenales Gedächtnis hatte. Er schien sich an jede Phase seines noch jungen Lebens erinnern zu können, auch wenn diese schon jahrelang zurücklagen. Minutiös schilderte er, was er in der Zeit, seit er sich in München aufhielt, getan und erlebt hatte.
Gewalt habe ihn schon immer fasziniert. Auch wenn sie ihn in Angst und Schrecken versetzte. Als er 18 Jahre war und einen kleinen Fernsehapparat in seinem Zimmer benutzen durfte, schaute er heimlich die Sendung »XY-ungelöst« an. Die dort gezeigten Verbrechen lösten Angstzustände in ihm aus und gleichzeitig eine unerklärliche Faszination. Die ganze Nacht konnte er dann nicht schlafen. Besonders wenn Mordfälle gezeigt wurden. Danach ging er zur Toilette und onanierte, so erregt war er jedes Mal. Er selbst hatte bisher nur einmal den Mut aufgebracht, eine Art Gewalt anzuwenden: durch Feuer. Im Alter von 16 Jahren zündete er die Turnhalle seiner Schule an. Sie ist restlos abgebrannt. Auf ihn als Täter ist niemand gekommen. So wie Jahre später in München, als ihn ein Vermieter beleidigt und als nicht ganz normal bezeichnet hatte. Mit der Folge, dass er Monate später, als ihm diese Schmach wieder einmal in den Sinn gekommen war, den spontanen Entschluss fasste, den Mann für diese Demütigung zu bestrafen. An einer Tankstelle füllte er nächtens zwei Kanister mit Benzin, fuhr mit der S-Bahn hinaus zu dem schmucken Einfamilienhaus des Mannes am Rande der Stadt, goss dort das Benzin auf der Terrasse aus und zündete es an. Das Haus brannte lichterloh. Gott sei Dank waren die Eigentümer rechtzeitig aufgewacht, sodass Menschen nicht zu Schaden kamen. Der Sachschaden aber war beträchtlich. Geklärt
wurde der Fall damals ebenfalls nicht. Zum Glück für seine Eltern, denn die wären daran zerbrochen. Weil sie nämlich beide tiefgläubig waren und nach den Buchstaben der Bibel lebten. In Einklang mit ihren Mitmenschen, wenn auch in sehr distanzierter Form.
Die Eltern waren schon im Rentenalter, die Mutter bekam die beiden Buben erst, als sie schon fast 40 Jahre alt war und der Vater schon fast 50. Er war Schrankenwärter, die Mutter Hausfrau. Sie wohnten äußerst bescheiden in einem kleinen Schrankenwärterhäuschen, aber er und sein jüngerer Bruder wurden gut versorgt. Es fehlte ihnen rein materiell an nichts. Sie wurden zwar nie geschlagen. Doch Zärtlichkeit und Liebe gab es nicht bei ihnen zu Hause. Gesprochen wurde nicht viel, und gelacht wurde nie. Nur viel gebetet. Und in der Familie wurde das Thema Sexualität selbstverständlich komplett ausgegrenzt. Aber ab einem gewissen Alter verspürte er eine unstillbare Sehnsucht nach sexueller Betätigung mit einer Frau. Und die war von Jahr zu Jahr stärker geworden.
Stundenlang sei er in dem Haus im Olympiagelände herumgelaufen an diesem 8. Oktober. Von einem Stockwerk zum nächsten. Das Haus sei fast menschenleer gewesen an diesem Nachmittag. Wenn jemand gekommen sei, habe er sich an eines der vielen Schwarzen Bretter gestellt und so getan, als würde er die Aushänge lesen. Er habe nach einem Zimmer gesucht, an dem nur ein einzelner Mädchenname verzeichnet gewesen sei. Bis er schließlich zu dem Zimmer der Christine S. kam, deren Namen auf dem Türschild stand und die offensichtlich alleine in dem Appartement wohnte.
»Ich hörte ein Klimpern und Klappern aus dem Zimmer, das sich anhörte, als würde die Person im Innern des Zimmers mit Geschirr hantieren. Das Zimmer am Ende des Ganges schien mir günstig gelegen, weil links daneben kein weiteres Zimmer mehr war. Nur rechts schlossen sich die Zimmer an, aus denen ich aber keine Geräusche vernehmen konnte und deshalb davon ausging, dass dort niemand zu Hause war. Mindestens 20 Minuten stand ich vor der Zimmertür, ging aber zwischendurch immer wieder auf und ab. Ich war unentschlossen. ›Geh nach Hause‹, sagte ich mir immer wieder. ›Nein, du wirst die Bluttat, die du vorhast, nicht ausführen.‹ Ich war nahe daran, das Haus wieder zu verlassen. ›Du wirst die Tat jetzt begehen!‹, gab ich mir den Befehl. Mein Herz schlug bis zum Halse, ich war in höchstem Maße erregt, als ich schließlich mit der rechten Hand die Klingel betätigte. In der linken Hand hatte ich die Tränengasspraydose, die rechte Hand steckte ich zurück in die Jackentasche und
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