Abgründe - Wenn aus Menschen Mörder werden - Der legendäre Mordermittler deckt auf
bearbeitet wurde, war ja schon auffallend genug. Dass er aber nicht einmal wissen wollte, warum man ihn nicht einfach telefonisch herbeordert habe, sondern persönlich abholen ließ, das war bereits unter der Rubrik »abweichendes Verhalten« zu verbuchen. Gemeint ist damit, dass sich jemand nicht so verhält, wie sich ein wirklich Unschuldiger in einer bestimmten Situation nach allgemeiner Lebenserfahrung eigentlich verhalten müsste. Vorsichtige Schlussfolgerung: Er ist möglicherweise nicht unschuldig. Möglicherweise, wohlgemerkt.
Klaus F. war etwas größer als ich, schätzungsweise 1,85 Meter. Schlanke, sportliche Figur, dichtes, blondes, halblanges Haar, modischer, gepflegter Haarschnitt, und er war ein gut aussehender Bursche, ein sogenannter Womanizer, wie man heutzutage sagt. Ich konnte mir vorstellen, dass er bei Frauen gut ankommt. Er trug modische, sicherlich nicht billige Kleidung, soweit ich das zu beurteilen vermochte.
Die Vernehmung begann um 9.30 Uhr. Ich ahnte noch nicht, dass es eine der schwierigsten und belastendsten
meiner Dienstzeit werden würde. Sie sollte 13 Stunden andauern und mit einer Festnahme enden. Und zwar mit der Festnahme eines Kriminalbeamten, den ich als Zeugen hatte vorladen lassen und den ich nach zwölf Stunden ununterbrochenen Verhörs des Doppelmordes beschuldigen würde. Der zuständige Staatsanwalt würde anschließend alle Verdachtsmomente gründlich prüfen, einen Haftbefehl beantragen und bekommen.
Auch der erfahrenste Vernehmungsbeamte kann nie sagen, wie eine Vernehmung verlaufen und wie sie enden wird. Selbst wenn es sich vielfach erahnen lässt. Niemand kann vorhersagen, welche Antworten man auf seine Fragen bekommt und welche Fragen sich wiederum aus diesen Antworten ergeben. Das geht so lange, bis eine Frage entweder zur Zufriedenheit des Fragenden beantwortet ist oder bis man erkennt, dass der Befragte keine zufriedenstellende Antwort (mehr) geben kann oder geben will. Entweder weil er sich nicht mehr erinnert oder - aus welchen Gründen auch immer - lügt wie gedruckt. Allerdings nicht immer nur, um die eigene Täterschaft zu vertuschen. Meistens aber schon.
Mir war nicht verborgen geblieben, wie angespannt Klaus F. war. Hoch konzentriert. »Der hat die Antennen ausgefahren«, dachte ich. Was allerdings (noch) nichts bedeuten musste angesichts einer Vernehmung durch die Mordkommission. Wer ist da nicht nervös? Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass man Polizist ist. Im Gegenteil. Als solcher weiß man am besten, wie schnell man in Verdacht geraten und durch die Mühlen der Strafverfolgungsbehörden gedreht werden kann. Außerdem wollen sich Polizisten natürlich keine Blöße geben und meinen, sich möglichst souverän verhalten zu müssen.
Zumal sie wissen, dass es bei der Mordkommission ganz schön zur Sache gehen kann. Was halt daran liegt, dass es um Tötungsdelikte geht und nicht um Eierdiebstahl.
Nachdem ich ihn als Zeugen belehrt und zur Wahrheit ermahnt hatte, erklärte ich ihm, wir wüssten zwar noch nichts Genaues, gingen aber davon aus, dass ein Verbrechen passiert sein könnte. Vor allem, weil wir Blutspuren gefunden hätten. Bewusst vage Andeutungen also, die geradezu nach einer Nachfrage schrien. Dachte ich. Aber es kam nichts. Obwohl er äußerst aufmerksam zuhörte. Es schien fast, als wüsste er schon alles. Täterwissen?
Kennengelernt habe er Elisabeth in seiner Eigenschaft als Kriminalbeamter. Ihr war die Geldbörse samt 300 Euro, EC-Karte und diverser anderer Dokumente geklaut worden, und er bearbeitete den Fall. Dann war das Portemonnaie wieder aufgefunden worden, weil der Täter nur das Geld entnommen und es dann weggeworfen hatte. Als sie in seinem Büro ihre Sachen abholte, fanden beide sich sympathisch und verabredeten sich zum Essen. Man landete schließlich bei einem »vornehmen Italiener« in Garmisch-Partenkirchen und anschließend in ihrem Bett. In seines konnten sie nicht, denn dort lag ja noch seine Ehefrau. Kurze Zeit später führte die Beziehung mit Elisabeth S. zur Scheidung seiner Ehe, in der es aber sowieso »nicht mehr gestimmt« habe. Was denn sonst, dachte ich. Wenn man eine andere hat, hat es plötzlich »sowieso« nicht mehr gestimmt. Das kannte ich schon.
Immerhin vier Jahre seien Elisabeth und er zusammen gewesen. Dann habe auch in dieser Beziehung »nichts mehr gestimmt«, und so habe man sich vor eineinhalb Jahren einvernehmlich getrennt. Elisabeth habe dann den Studenten Thomas W. kennengelernt,
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