Abgründe
Finnur Sigurður Óli schweigend an.
»Falls du glaubst, dass du der einzige anständige Bulle weit und breit bist, dann ist das ein großes Missverständnis. Hör auf, mir was vorzupredigen und zu drohen, damit wir beide einfach weiter unsere Arbeit tun können.«
Finnur starrte Sigurður Óli an, als versuche er zu begreifen, worauf Sigurður Óli angespielt hatte. Ob es ihm klar geworden war oder nicht, blieb offen, aber er stieß eine Flut von Verwünschungen aus und stürmte wieder zurück ins Haus.
Am Abend ging Sigurður Óli noch einmal ins Dezernat, wo etwas für ihn abgegeben worden war. Der Überbringer hatte nicht sagen wollen, wer er war, aber die Beschreibung passte zu diesem Penner, der Andrés hieß und der ihm beim Hofeingang zum Dezernat aufgelauert hatte. Auf seinem Schreibtisch lag eine zusammengeknüllte, zerknitterte Plastiktüte einer Supermarktkette. Sigurður Óli brauchte einige Zeit, um herauszufinden, was ihr vergleichsweise winziger Inhalt war. Erst glaubte er, dass gar nichts in der Tüte war und dass es sich nur um einen albernen Scherz handelte. Er drehte die Tüte schließlich um und schüttelte sie so lange, bis der Inhalt auf den Boden fiel.
Es stellte sich heraus, dass es ein aufgerolltes Stück eines 8-mm-Films war. Sigurður Óli legte ihn auf den Schreibtisch und durchsuchte die Tüte noch einmal nach einem Brief oder weiteren Filmstücken, ohne Erfolg.
Er nahm die dünne Filmrolle in die Hand, zog sieauseinander und hielt den Streifen in das Licht der Schreibtischlampe, um zu sehen, was darauf war, konnte aber nichts erkennen. Er dachte lange über diesen Andrés nach, sah ihn vor sich, wie er ihm hinter dem Polizeigebäude aufgelauert hatte, und versuchte sich vorzustellen, was der Mann von ihm wollte.
Er starrte auf den Film und hatte keine Ahnung, was er von dieser armseligen Sendung halten sollte. Viel konnte auf dem kurzen Stück Film nicht zu sehen sein, und er hatte keine Ahnung, weshalb er auf seinem Schreibtisch gelandet war.
Später stellte sich heraus, dass der Film eine Länge von zwölf Sekunden hatte.
Zweiundzwanzig
Lína war Sekretärin bei einer mittelgroßen Steuerberatungsfirma gewesen, deren Mitarbeiter alle entsetzt über ihr Schicksal waren. Sigurður Óli fuhr am Samstag um die Mittagszeit dorthin. Eigentlich hatte er damit bis nach dem Wochenende warten wollen, aber dann war ihm gesagt worden, dass die meisten Mitarbeiter auch am Wochenende arbeiteten, da die Firma sonst kaum in der Lage war, die eingehenden Aufträge zu bewältigen. Niemand von seinen Gesprächspartnern konnte sich vorstellen, warum und weshalb jemand Lína überfallen haben könnte oder wer ihr etwas Böses wollte. Er unterhielt sich mit den Sekretärinnen, die mit ihr zusammengearbeitet hatten, und mit einigen Steuerberatern, für die sie tätig gewesen war. Schließlich traf er sich im Konferenzzimmer mit dem stellvertretenden Chef der Kanzlei, der Sigurlína Þorgrímsdóttir am meisten als Sekretärin in Anspruch genommen hatte. Der Mann, dem man den Wohlstand ansehen konnte, war um die fünfzig, hieß Ísleifur und trug einen sündhaft teuren Anzug. Im Zuge des Wirtschaftsbooms florierten die Geschäfte in der Firma, und anscheinend war er ein außerordentlich beschäftigter Mann. Die beiden Handys, die vor ihm auf dem Tisch lagen, waren stumm gestellt, und während Sigurður Óli sich mitihm unterhielt, vibrierten sie abwechselnd. Nach einem Blick auf die Displays befand Ísleifur jedes Mal, dass die Anrufe unwichtig waren. Er nahm nur einen Anruf entgegen, seinen Antworten nach zu urteilen war seine Ehefrau am anderen Ende der Leitung. Er sagte ihr in sanftem Ton, dass er in einer Besprechung sei und später zurückrufen werde, was sie anscheinend nicht zum ersten Mal hörte.
Der Mann betonte, was für eine hervorragende Kraft Lína gewesen war, alle hätten nur Gutes über sie zu sagen. Und in der Tat hatte keiner der Leute, mit denen Sigurður Óli sich unterhalten hatte, ein negatives Wort über sie fallen lassen.
»Ich glaube, sie war ernsthaft daran interessiert, sich zur Steuerberaterin ausbilden zu lassen«, erklärte Ísleifur. »Sie verfügte über ausgezeichnete Kenntnisse in unserem Metier, diese Arbeit ist nichts für jedermann«, fügte er selbstgefällig hinzu.
»Geht es dabei nicht einfach ums Addieren und Subtrahieren?«, fragte Sigurður Óli.
Ísleifur lachte trocken. »Ja, das glauben viele. Aber so simpel ist es eben nicht.«
»Gehörte Lína zu
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