Abgründe
warf die Zigarette in die Nikotinbrühe. »Das hat zumindest Lína immer gesagt.«
»Sie verfügte wohl diesbezüglich über große Erfahrung?«, erkundigte sich Sigurður Óli.
Kolfinna fischte die nächste Zigarette aus der Schachtel, sie war offensichtlich entschlossen, die Pause gut zu nutzen.
»Ebbi war natürlich immer dabei.«
Sie lachte kurz und heiser. Sigurður Óli grinste.
»Willst du damit andeuten, dass sie mit einem von diesen Typen was hatte?«, fragte Kolfinna. »Wundern würd’s mich nicht. Lína war so. Sie fand nichts dabei, mit allen möglichen Männern zu schlafen. Wisst ihr mehr darüber? Hat sie sich mit diesen Typen eingelassen?«
Ihr Interesse war echt, was nicht zuletzt ihrer Enttäuschung anzumerken war, als Sigurður Óli entgegnete, dass er darüber nichts wisse. Auf seine Frage, ob er von ihr die Namen der Kunden erhalten könnte, mit denen Ebeneser und Lína diese Ausflüge unternommen hatten, erklärte sie, das sei kein Problem, die Listen seien im Computer. Ob die beiden in einer so verzweifelten Lage gewesen waren, dass sie auf Besuche von Geldeintreibern gefasst sein mussten, wusste sie nicht, wiederholte aber, dass sie stark verschuldet gewesen seien. Ansonsten war Lína offensichtlich nicht der Typ gewesen, der viel über private Angelegenheiten redete. Kolfinna arbeitete seit ein paar Jahren mit ihr zusammen und war prima mit ihr ausgekommen, aber im Grunde genommen wusste sie sehr wenig über Lína.
»Sie war eine prima Kollegin«, sagte sie, »aber sie hielt einen auch irgendwie auf Abstand. So war sie einfach. Sie ist nie aufdringlich gewesen.«
»Hat sie irgendwann mal erwähnt, dass sie Angst hatte oder in eine Sache hineingeraten wäre, mit der sie nicht fertig wurde?«, fragte Sigurður Óli.
»Nein«, antwortete Kolfinna prompt. »Bei ihr lief alles bestens. Das glaube ich zumindest.«
Auf die Schnelle fand sie nur eine der Teilnehmerlisten an den Gletschertouren in ihrem Computer, versprach Sigurður Óli aber, ihm die andere zu schicken, sobald sie sie fände. Sigurður Óli ging die Liste durch, doch die Namen sagten ihm nichts.
Am späten Nachmittag rief Elínborg an und bat ihn, sie abends bei einem Hausbesuch zu begleiten. Er war zwar der Meinung, dass man seine Samstagabende wesentlich interessanter gestalten konnte, erklärte sich aber trotzdem bereit. Elínborg bearbeitete zurzeit einen sehr schwierigen Fall, den Mord im Þingholt-Viertel, und war beinahe Tag und Nacht im Einsatz. Sie holte ihn abends ab, und gemeinsam fuhren sie zu einem Mann, der in Fellsmúli lebte und Valur hieß, ein unangenehmer Mensch, der Sigurður Óli total auf die Nerven ging.
»Hast du eigentlich mal was von Erlendur gehört?«, fragte Sigurður Óli, als sie sich nach diesem Besuch wieder ins Auto setzten. Er erzählte Elínborg, dass Eva Lind ihn angerufen und sich nach ihrem Vater erkundigt hatte.
»Ich hab nicht das Geringste von ihm gehört«, sagte Elínborg, der man ihre Müdigkeit anmerkte. »Wollte er nicht für einige Tage in die Ostfjorde fahren?«
»Wie lange ist das schon her?«
»Bestimmt eine Woche, wenn nicht länger.«
»Wie lange wollte er Urlaub machen?«
»Keine Ahnung.«
»Und was will er in den Ostfjorden?«
»Die Gegend besuchen, in der er aufgewachsen ist.«
»Hast du was von dieser Frau gehört, mit der er sich trifft?«
»Von Valgerður? Nein. Ich sollte sie vielleicht mal anrufen. Möglicherweise hat er sich ja bei ihr gemeldet.«
Dreiundzwanzig
Zum zweiten Mal saß Sigurður Óli sonntagmorgens in seinem Auto vor dem Haus am Kleppsvegur und behielt die Zeitung im Auge, die ein Stück aus dem Briefkasten am Eingang herausragte. Er hatte sich schon früh dort eingefunden, kurz nachdem die Zeitung ausgetragen worden war, und ließ den Motor laufen, um es warm zu haben. Diesmal hatte er sich Kaffee in einer Thermoskanne und etwas zu Lesen mitgebracht, Zeitungen und einen neuen Reiseprospekt für Florida. Es waren noch weniger Leute als am vergangenen Sonntag unterwegs. Weder das Mädchen, das vor einer Woche die Treppe hinaufgewankt war, noch der Tagedieb, der sich als Komponist ausgab, hatten sich blicken lassen. Die Zeit schleppte sich dahin. Sigurður Óli ließ bei der Lektüre der Zeitung keinen Buchstaben aus, und zwischendurch betrachtete er immer wieder die Sonnenbilder aus Florida. Das Radio lief, aber er fand nichts nach seinem Geschmack, obwohl er von Sender zu Sender wechselte – von Geschwätz zu Musiksendungen und dann
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