Abgründe
deinem engeren Mitarbeiterstab?«
»Das könnte man so ausdrücken. Und sie war überaus tüchtig. Wir mussten häufig abends und an Wochenenden Überstunden machen, wie du hier siehst, und sie war immer bereit, sich einzusetzen.«
»Was ist dein Fachgebiet?«, fragte Sigurður Óli. »Was für Kunden hast du?«
»Das ganze Spektrum«, sagte Ísleifur und nahm ein vibrierendes Handy vom Tisch, warf einen raschen Blick auf das Display und lehnte das Gespräch ab. »Privatleute und Firmen, große Unternehmen. Von einfacher Buchhaltung bis hin zu den kompliziertesten Verträgen.«
»Hatte Lína Verbindung zu irgendjemandem von diesen Kunden?«
»Verbindung?«
»Kannst du mir irgendwelche Kunden nennen, mit denen Lína im Rahmen ihrer Arbeit in direkter Verbindung stand?«
»Ja, ich weiß nicht …«
Das andere Handy vibrierte.
»… meinst du eine Verbindung privater Natur oder …?«
Er blickte auf die Telefonnummer und verweigerte wieder die Annahme des Gesprächs.
»Welche Verbindung auch immer. Hatte sie private Beziehungen zu Kunden dieser Firma?«
»Nicht, dass ich wüsste«, antwortete Ísleifur. »Es gibt natürlich die unterschiedlichsten Kontakte, aber normalerweise nicht zwischen Sekretärinnen und Kunden, viel eher zu uns Beratern.«
»Kennst du ihren Mann Ebeneser?«
»Ja, aber nur sehr oberflächlich. Er hat Incentive-Reisen ins Hochland für unsere Kunden organisiert. Er ist Reiseleiter. Wir grillen beispielsweise oben auf dem Vatnajökull, dem drittgrößten Gletscher der Welt, und dergleichen.«
»War ihre Beziehung gut? Weißt du etwas darüber?«
Nun begannen beide Handys zu zittern. Ísleifur nahm sie mit entschuldigender Miene zur Hand. »Die muss ich wahrscheinlich annehmen«, sagte er. »Lína hat meistens mit Kolfinna zusammengearbeitet. Sie istebenfalls Sekretärin, du solltest dich vielleicht mit ihr unterhalten.«
Kolfinna war nicht weniger beschäftigt als ihr Chef. Sie saß am Computer und gab Informationen in eine Excel-Datei ein, aber dauernd klingelte das Telefon. Sigurður Óli fragte, ob sie ein paar Minuten erübrigen könnte, um sich mit ihm über Sigurlína zu unterhalten.
»Ja, du lieber Himmel«, sagte Kolfinna. »Ich hab gehört, dass die Polizei da ist. Moment mal, rauchst du?«
Sigurður Óli schüttelte den Kopf.
»Trotzdem Zigarettenpause«, sagte sie und schloss die Datei. Sie zog eine Schublade auf, schnappte sich ihre Zigarettenschachtel und ein Feuerzeug und ging vor ihm her zum Hintereingang. Überraschend schnell standen sie hinter dem Haus unter freiem Himmel. Beim Eingang war eine Schale, in der Zigarettenkippen in einer trüben Flüssigkeit schwammen. Kolfinna zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief.
»Mein Gott, es ist einfach entsetzlich«, seufzte sie. »Wahnsinn, dass ein Einbrecher so über normale Leute herfällt.«
»Du glaubst, dass es ein Einbrecher war?«, fragte Sigurður Óli, der versuchte, sich so hinzustellen, dass er den Rauch nicht einatmen musste.
»Ja. Stimmt das nicht? Ich hab es irgendwo gehört. War das nicht so?«
»Der Fall wird noch untersucht«, sagte Sigurður Óli kurz angebunden. Er konnte Raucher nicht ausstehen und war sehr dafür, das Rauchverbot nicht nur in öffentlichen Gebäuden, sondern auch in Restaurants und Kneipen einzuführen. Woanders durften sich Raucher seinetwegen ruhig umbringen.
»Wie war die Beziehung zwischen ihr und Ebeneser?«, fragte er dezent hustend, doch das entging Kolfinna.
»Ihre Beziehung? Die war in Ordnung, glaube ich. Aber die beiden mussten sich ordentlich abrackern, sie haben nämlich irre Schulden gemacht. Die haben sogar neben den normalen Darlehen Kredite in ausländischen Devisen aufgenommen – für den Jeep und das Ferienhaus, das sie sich bauen. Sie haben ja nur durchschnittliche Einkommen, wollten aber alles haben und auf nichts verzichten. Lieber noch einen weiteren Kredit aufnehmen. Machen das jetzt nicht alle?«
»Ein Ferienhaus?«
»Ja, irgendwo in Südisland.«
»Ebeneser hat, wenn ich es richtig verstanden habe, Incentive-Trips für euch und eure Kunden organisiert«, sagte Sigurður Óli.
»Ja, zwei Mal, glaube ich. Ich war nicht dabei, aber Lína ist natürlich mitgefahren. Muss wohl echt Spaß gemacht haben. Zwei oder drei Tage waren sie unterwegs, und immer mit den Jeeps rauf auf die Gletscher. Wer was auf sich hält, muss wohl so einen Superjeep fahren. Je weniger die Typen in der Hose haben, desto teurer die Jeeps«, spöttelte Kolfinna und
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