Abgründe
Gewalttätigkeit noch nicht oft so hautnah zu Gesicht bekommen. Andrés führte seinen jetzigen Zustand auf diese furchtbare Kindheit zurück, und er war ganz offensichtlich immer noch voller Trauer und Zorn.
Die Scheiben des Autos beschlugen, und er öffnete das Fenster einen Spalt, um die Feuchtigkeit herauszulassen. Er wusste nicht, wie lange er das Haus von Höddi noch im Auge behalten wollte. Es war bereits nach zehn, und in und vor dem Haus rührte sich nichts.
Sein Handy klingelte, und er sah, dass es seine Mutter war.
»Hast du schon nach deinem Vater geschaut?«, fragte Gagga ohne weitere Begrüßung, als er sich gemeldet hatte.
Er erzählte ihr, dass die Operation gut verlaufen sei und der Alte guter Dinge, er würde bald entlassen werden.
»Und hast du dich schon untersuchen lassen?«, fragte sie daraufhin.
»Nein«, antwortete er, »das hat Zeit.«
»Klemm dich dahinter«, sagte Gagga. »So etwas sollte man nicht auf die lange Bank schieben.«
»Mach ich«, sagte Sigurður Óli lahm. Er war sich nicht sicher, ob er dieses Versprechen in die Tat umsetzen würde. Das hatte nicht nur mit dieser speziellen Untersuchung zu tun. Sigurður Óli hatte schon seit Langem eine ausgesprochene Phobie vor Ärzten, und Arztbesuche jeglicher Art waren das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte. Er hasste den Geruch in den Wartezimmern und Arztpraxen, die alten Zeitschriften, die Warterei und vor allem die Begegnung mit den Ärzten. Am schlimmsten waren die Zahnärzte. Er konnte sich nichts Unangenehmeres vorstellen, als auf dem Stuhl zu liegen und zu diesen Großverdienern hochzustarren und sie über die teuren Zeiten jammern zu hören. Dicht darauf folgten die HNO-Ärzte. Seine Mutter hatte ihm irgendwann die Mandeln entfernen lassen, weil ihrer Meinung nach Übel wie Schnupfen, Erkältungen, Halsentzündungen und Ohrenschmerzen nur darauf zurückzuführen waren. Noch heute mochte er kaum daran zurückdenken, an die Betäubung und den widerwärtigen Geschmack im Mund. Die Unfallambulanz war ein Kapitel für sich. Sigurður Óli hatte sich einige Male nach Handgreiflichkeiten dort behandeln lassen müssen. Es ärgerte ihn maßlos, wie lange man dort warten musste, gar nicht zu reden von der antiseptischen Atmosphäre und den uralten, zerfledderten Zeitschriften. Besonders eklig fand er die Zeitschriften in den Arztpraxen. Er hatte zwar irgendwogelesen, dass sie keine Infektionsherde darstellten, auch wenn sie tagaus, tagein nur von schwerkranken Menschen angefasst wurden, aber das hatte ihn keineswegs überzeugt.
Das war offenbar alles gewesen, was seine Mutter mit ihm zu besprechen hatte, sie beendete das Gespräch. Keine fünf Minuten später meldete sich sein Handy wieder, diesmal war es Bergþóra.
»Wie geht’s deinem Vater?«, fragte sie.
»Prima«, antwortete Sigurður Óli kurz angebunden.
»Stimmt was nicht?«
»Ich bin bei der Arbeit.«
»Dann will ich nicht stören«, sagte Bergþóra.
Bei diesen Worten kam Höddi aus seinem Haus. Er machte die Tür sorgfältig hinter sich zu und fasste zweimal an die Klinke, um sich zu vergewissern, dass sie fest verschlossen war. Dann ging er zu seinem Jeep und kuppelte den Anhänger ab.
»Nein, es ist schon in Ordnung«, sagte Sigurður Óli und versuchte, nicht zu abweisend zu klingen, obwohl ihm das angesichts ihres letzten Telefongesprächs schwerfiel. »Hab ich dich gestern Abend gestört?«
Höddi schob den Anhänger zu den Motorschlitten hinüber und stellte ihn ab. Dann schwang er sich in den Jeep und fuhr los. Erst nach einiger Zeit ließ Sigurður Óli den Motor an und folgte ihm in einiger Entfernung.
»Nein, das war in Ordnung«, sagte Bergþóra. »Ich hatte schon seit einiger Zeit vor, dir zu sagen, dass ich vor drei Wochen einen Mann kennengelernt habe, wir haben uns ein paarmal getroffen.«
»Ach ja?«
»Ich wollte es dir an dem Abend sagen, als wir essen waren, aber irgendwie bin ich nicht dazu gekommen.«
»Und wer ist es?«
»Niemand, den du kennst«, sagte Bergþóra. »Auf jeden Fall ist er nicht bei der Polizei. Er arbeitet in einer Bank. Und er ist sehr nett.«
»Schön, dass er nett ist«, sagte Sigurður Óli, der sich bemühte, Höddi auf den Fersen zu bleiben, ohne dass er es merkte, und gleichzeitig mit Bergþóra über Dinge zu reden, die er im Grunde genommen überhaupt nicht hören wollte, ohne dass sie es merkte.
»Ich höre, dass du beschäftigt bist«, sagte Bergþóra. »Vielleicht reden wir lieber später
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