Abgründe
Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß.«
»In Ordnung. Wer war sonst noch auf dieser Tour dabei? Ich kannte keinen von den Namen.«
»Lauter Ausländer«, sagte Patrekur. »Ingenieure wie ich, Leute aus den Banken. Ich kannte die kaum. Es waren Amerikaner darunter, die sich hier über geothermale und erneuerbare Energie informieren wollten. Ich wurde mitgeschickt, weil ich in Amerika studiert habe,und wir sehr viele Untersuchungen im Bereich zukünftige Energiequellen machen. Und dann …«
»Ja?«
»Einer von denen ist kurz darauf verunglückt, einer von den Bankern. Ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Sie haben irgendeine gemeinsame Reise gemacht, und er verschwand spurlos. Er wurde erst in diesem Frühjahr gefunden, beziehungsweise das, was noch von ihm übrig war.«
Zweiunddreißig
Der Mann, der Höddi genannt wurde, wohnte in einem alten und ziemlich heruntergekommenen Reihenhaus in Breiðholt. Zwei Motorschlitten standen in der Einfahrt zur Garage, beide mit einer Plane zugedeckt. Ein großer, relativ neuer Jeep mit Anhänger war auf der Straße vor dem Haus geparkt, daneben ein Motorrad. Wenn das Höddis Spielzeuge waren, musste seine Reparaturwerkstatt einiges abwerfen. Sigurður Óli hatte sich bereits seit einigen Stunden an seine Fersen geheftet. Höddi war nach der Arbeit ins Fitness-Studio und anschließend nach Hause gefahren. Andere Hausbewohner hatte Sigurður Óli nicht bemerkt, und er wusste nicht, ob Höddi eine Familie hatte. Er war vor drei Jahren einmal wegen Körperverletzung festgenommen worden, doch die Anklage wurde fallen gelassen. Mehr war in den Polizeiakten nicht über ihn zu finden.
Sigurður Óli hatte sein Auto in einiger Entfernung von dem Reihenhaus geparkt und den Motor abgestellt. Während er in dem kalten Wagen wartete, dachte er an Andrés, von dem er nichts mehr gehört hatte. Er wusste nicht, wie er ihn aufspüren könnte, aber er wusste auch nicht, ob das überhaupt einen Sinn hatte. Weshalb meldete sich Andrés ständig bei der Polizei? Es lag auf derHand, dass Ereignisse aus seiner Kindheit schwer auf ihm lasteten. Er hatte wohl immer noch eine Rechnung offen, auch wenn alles lange zurücklag. Er war voll Bitterkeit und Wut und Hass auf die Menschen, die dafür verantwortlich waren. Sein Schweigen über die Mutter bezeugte das. Alles, was er über diesen Rögnvaldur sagte, zeugte von abgrundtiefem Hass. Sigurður Óli überlegte, ob es zu einem Zusammentreffen gekommen war und was dabei passiert sein konnte. Wie begegnet man einem solchen Henkersknecht, seinem Peiniger? Bei Andrés konnte keine Rede von Nachsicht oder Vergebung sein, so viel stand fest.
Sigurður Óli hatte Andrés mitnehmen wollen, damit er die Hilfe bekam, die er brauchte, und um herauszufinden, was genau er wollte. Aus dem, was er bisher von sich gegeben hatte, war nicht viel zu entnehmen gewesen, etliches war komplett unverständlich. Trunksucht und Verwahrlosung hatten ihn schwer gezeichnet, er hatte sich seit langer Zeit völlig vernachlässigt und schlug sich nur mit seinen quälenden Gedanken herum. Der Alkohol diente ihm dazu, die Qualen zu lindern. Sigurður Óli hatte sich mit sämtlichen Alkoholläden in Reykjavík in Verbindung gesetzt, Andrés kurz beschrieben und darum gebeten, ihm Bescheid zu geben, falls er sich blicken ließe.
Sigurður Óli verspürte Mitleid mit dem Jungen auf dem Filmstreifen. Es war eigentlich nicht seine Art, Mitgefühl mit den unselige Gestalten zu empfinden, mit denen er beruflich zu tun hatte, aber die Angst und die Hilflosigkeit des Jungen in dem alten Filmstreifen berührten ihn. Normalerweise vertrat er die Meinung, dass es die Randfiguren der Gesellschaft sich selber zuzuschreiben hatten, wie es ihnen erging. Er verrichtete nur seine Arbeit, und wenn er sich abends ausgestempelt hatte, ließ er sie hinter sich und musste sich erst am nächsten Morgen wieder damit befassen. Einigen seiner Kollegen gingen schwierige Fälle nahe, vor allem Neulingen, aber auch einigen der älteren Kollegen. Seiner Meinung nach war das nur hinderlich. Man hatte ihm oft diese kalte und nüchterne Einstellung vorgeworfen, aber darum scherte er sich nicht.
Andrés’ Fall hatte jedoch eine starke Wirkung auf ihn, ohne dass er im Grunde genommen wusste, warum – abgesehen davon, dass es um einen Fall von Kindesmissbrauch ging. Die Kriminalpolizei musste sich ständig mit solchen Fällen befassen, aber Sigurður Óli hatte die Auswirkungen dieser Art von jahrelanger
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