Abgründig (German Edition)
ihnen aufragte. Es waren weder ein Weg noch irgendwelche Vorrichtungen zu erkennen, an denen man sich hätte festhalten können. Der Hang war mit Tausenden und Abertausenden Felsstücken gespickt. Zwischen ihnen schien der Regen schmale, silbergrau glänzende Bäche aus Schutt herabzuspülen.
»Du willst jetzt nicht wirklich da hoch, oder?«
Ralf schmunzelte und sagte so laut, dass alle es hören konnten: »Natürlich gehen wir da hoch. Ihr wolltet doch eine Abenteuertour. Hier fängt sie an. So was nennt man Schrofen. Hier werden wir zum ersten Mal ein bisschen klettern und die Hände einsetzen müssen. Es kann euch nichts passieren, solange ihr genau das tut, was ich euch sage.«
Tim sah erst den Hang und dann Ralf ungläubig an. »Ohne Hilfsmittel? Und ohne Helm? Da kommen doch sofort Steine runter, sobald der Erste von uns einen Fuß draufsetzt. Ich hab dich gestern Abend extra noch gefragt, ob wir nicht besser die Ausrüstung mitnehmen sollen, Mann.«
Tim nahm seinen Rucksack vom Rücken und setzte ihn unsanft auf den Boden. Er war sauer. Diesen Wahnsinn würde er nicht mitmachen, nur damit das verwöhnte Arztsöhnchen mit seinem »Bergwissen« prahlen konnte. Und dafür waren sie nun die ganze Zeit durch den Regen gestapft! Er war nicht nur sauer, er war wütend.
»Mensch, schau dir das doch mal an, das ist verdammt steil. Überall spitze Steine und Geröll. Und alles ist nass. Da braucht man nur auszurutschen und ruck, zuck hat man sich was gebrochen.« Tim redete sich in Rage. Er merkte, dass seine Stimme lauter geworden war, aber es war ihm egal. »Ich dachte, du bist der große Profi. Bist du aber nicht. Jemand, der sich wirklich auskennt, würde nie mit einer Gruppe da hochgehen wollen, die so was noch nie gemacht hat. Und schon gar nicht ohne Ausrüstung.«
»Bist du jetzt fertig?«, wollte Ralf wissen, als offensichtlich war, dass Tim seinen Redeschwall beendet hatte.
Seine offen zur Schau gestellte Selbstsicherheit verunsicherte Tim, was ihn wiederum noch zorniger machte. »Nein, aber den Rest behalte ich für mich.«
Ralf ließ seinen Blick ruhig von einem zum anderen wandern, als frage er jeden stumm, ob er etwas dazu beitragen wolle. Schließlich blieben seine Augen an Tim hängen.
»Du hast es gerade selbst gesagt: Ihr seid Anfänger. Und deshalb kommt euch dieser kleine Hang viel steiler vor, als er ist. Das ist völlig normal. Aber ihr könnt mir glauben, ihr werdet das alle ohne Probleme schaffen. Ja, klar gehen die meisten mit Helm und Ausrüstung hoch, aber im Ernst: Die Mädchen und Fabian wären mit dem Gepäck gar nicht erst bis hierher gekommen.«
»Keine Ahnung«, meinte Fabian, der schräg hinter Tim stand. »Aber ich glaube, da traue ich mich nicht hoch.«
»Ich auch nicht«, sagte Julia, ging an Tim vorbei und stellte sich demonstrativ zu Fabian. Auch den anderen sah Tim an, dass der Gedanke, diesen Hang hochzuklettern, sie nicht begeisterte, was ihm einige Genugtuung verschaffte.
»Bitte, wenn ihr Schiss vor dem kleinen Hügel habt, dann geht eben zurück«, blaffte Ralf trotzig. »Wir wollten heute eine Bergtour machen, weil die im Camp nur Kinderspiele veranstalten. Seit über zwei Stunden sind wir nun unterwegs und wir sind dabei fast nur geradeaus gelaufen. Jetzt stehen wir vor dem ersten kleinen Stück, an dem wir mal ein bisschen klettern müssen, und ihr kneift. Toll. Aber okay, dann haut eben ab und hört euch im Camp eine Predigt an. Für nichts, denn ihr habt nichts erlebt. Wenn ich heute Abend zurückkomme, werde ich nicht mehr Ärger bekommen als ihr, dafür werde ich was zu erzählen haben. Ich bin sicher, dass das Wetter sich bald ändert. Dann werde ich dort oben vor einer wunderschönen Hütte sitzen, was Leckeres essen und trinken und es mir gut gehen lassen. Und ich werde wissen, dass ich nicht bei der kleinsten Schwierigkeit den Schwanz eingezogen habe.«
»Ich komme mit«, beteuerte Lucas, aber das hätte er sich aus Tims Sicht auch sparen können. Lucas würde wahrscheinlich auch hinterherspringen, wenn Ralf irgendwo abstürzte.
Eine Weile herrschte Stille. Sie sahen sich betreten an, betrachteten ihre Finger oder schubsten mit den Schuhspitzen kleine Kiesel an, die auf dem Weg herumlagen.
»Du lügst dir doch selbst in die Tasche.« Das kam von Denis, der sich ein paar Meter neben ihnen auf eine kleine Felserhöhung gesetzt hatte und in seinen nassen Klamotten bemitleidenswert dürr wirkte. Alle Blicke richteten sich auf ihn, doch er sah nicht
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