Abgründig (German Edition)
Einerseits nervte es Tim, dass Denis zu allem einen zynischen Kommentar abgab, aber letztendlich hatte er meist recht mit dem, was er sagte. Ein wirklich erfahrener Bergwanderer hätte sie nicht ohne Ausrüstung auf diese Tour mitgenommen. Außerdem hätte er eines der Notfallpakete dabeigehabt, die jeder Unterkunft zugeteilt worden waren – wahrscheinlich hätte es diese ganze Tour gar nicht erst gegeben. Bisher hatten sie großes Glück gehabt, dass noch nichts passiert war. Tim hoffte, dass es so blieb.
Es dauerte insgesamt weit über eine halbe Stunde, bis Julia als Letzte oben angekommen war. Alle waren erschöpft, aber froh, die Kletterei einigermaßen heil überstanden zu haben.
»Na, habe ich es euch nicht gesagt?« Die Worte kamen stoßweise, während Ralf den Rucksack abnahm und sich mit einem Seufzer daraufsetzte. »Alles halb so wild.«
Tim bezweifelte, dass alle ihn gehört hatten. Der Wind war mittlerweile so stark geworden, dass er Ralf die Worte regelrecht vom Mund pflückte und mit sich riss.
Tim legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den bedrohlich dunklen Himmel. »Das sieht nicht gut aus«, sagte er laut in Ralfs Richtung, und obwohl der nur zwei Schritte neben ihm saß, musste er es wiederholen.
Zu seiner Überraschung nickte Ralf, erhob sich und kam näher. »Ja, stimmt, ist ein ziemlicher Mist. Ich hatte gehofft, es lässt nach, aber scheinbar zieht da was Dickeres durch. Wir sollten schnell weiter, damit wir die Hütte erreichen, bevor es richtig losgeht.«
»Wie lange brauchen wir noch bis dahin?«, wollte Lena wissen, die ebenfalls zu ihnen gekommen war.
Ralf wiegte den Kopf hin und her. »Schwer zu sagen. Ich schätze mal eine Stunde.«
Tim nahm seine Wasserflasche aus dem Rucksack, machte ein paar Schritte zum Rand und spähte den Abhang hinunter. »Das war nicht ohne. Kommen noch mehr dieser netten Hügel ?«
Ralf schüttelte den Kopf. »Nein, aber wir müssen gleich noch eine Wand an Trittbügeln hoch. Keine Angst, das ist wie auf eine Leiter steigen. Danach biegen wir vom allgemeinen Weg ab, laufen erst durch ein kleines Waldstück und dann schräg hoch bis zu der Hütte. Das ist aber nicht mehr steil.«
Die Wand mit den Trittbügeln erreichten sie nach zehn Minuten, in denen der kalte Regen ihnen unangenehm ins Gesicht peitschte. Die Windböen hatten an Heftigkeit zugenommen, teilweise prallten sie mit einer solchen Wucht gegen ihre Körper, dass sie einen Schritt zur Seite oder zurück machen mussten, um nicht zu fallen.
Der Fels erstreckte sich etwa fünfzig, sechzig Meter senkrecht nach oben. Die Trittbügel waren in die Breite gezogene, u-förmige Eisenstangen, die im Abstand von einem halben Meter übereinander angebracht waren, was tatsächlich etwas von einer Leiter hatte.
»Das wird bei dem Wind nicht einfach«, sagte Ralf, als alle stehen blieben und die Ersten ihre Rucksäcke abnehmen wollten. »Wir müssen da hoch, bevor der Wind und der Regen noch schlimmer werden. Und bevor jemand den Vorschlag macht – nein, es gibt keinen anderen Weg zurück als den über die Schrofen. Und da würde ich bei dem Wetter jetzt auch nicht mehr runtergehen. Wir müssen also weiter. Beeilen wir uns. Aber passt auf, das ist jetzt wirklich nicht ungefährlich.«
Anders als zuvor redete nun niemand mehr davon, umzukehren, was Tims Ansicht nach damit zusammenhängen konnte, dass Ralf nichts mehr herunterspielte und die Gruppe ihm deshalb vielleicht mehr vertraute. Der nächste Windstoß kam so überraschend, dass er Jenny von den Beinen stieß. Janik und Sebastian waren mit wenigen Schritten bei ihr und halfen ihr wieder auf. Tim glaubte in Lenas nassem Gesicht ernsthafte Sorge zu erkennen. Er ging nah genug an sie heran, um nicht gegen den Wind anschreien zu müssen. »Alles okay?«
Sie nickte. »Ja, aber ich wäre jetzt doch froh, wenn wir bald in der Hütte wären.«
»Ich auch.«
Zwei Minuten später machte Lena sich als Erste an den Aufstieg. Tim hielt sich dicht hinter ihr.
Sie hatten abgemacht, dass sie trotz aller Eile aus Sicherheitsgründen in Zweierteams kletterten. Jedes Team würde warten, bis die beiden vor ihnen oben angekommen waren.
Sobald Lenas Fuß sich vom nächsten Bügel gelöst hatte, griff Tim danach. Meter für Meter zogen sie sich langsam höher und hatten es fast geschafft, als eine heftige Böe sie erfasste. Tim krallte reflexartig die Finger um die Eisenstange und hörte gleichzeitig über sich einen spitzen Schrei. Er legte den Kopf in den
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