Abgründig (German Edition)
oben viele davon.«
»Hast du nicht mehr alle Latten am Zaun, du Freak?« Das kam von Denis, der sich bisher erstaunlich zurückgehalten hatte. »Wir sollen uns einfach weiter von diesem Sturm herumwirbeln lassen, bis wir irgendwo zufällig eine Hütte finden? Oder vielleicht auch bis sich einer den Hals gebrochen hat? Alter, du hast ja ’nen noch größeren Schaden, als ich dachte.«
»So kommen wir nicht weiter«, sagte Fabian und machte einen Schritt nach vorn, damit ihn alle besser hören konnten. Noch immer hielt er die Hand an seinen Hinterkopf gepresst. »Ralf hat doch eine Nachricht hinterlassen, auf der steht, wo wir sind. Die werden sicher schon einen Suchtrupp losgeschickt haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie uns hier finden, unter diesem Felsvorsprung, ist gleich null. Wenn wir da draußen sind, ist das zwar ungemütlich, aber wir könnten durchaus auf eine Hütte stoßen und haben zusätzlich die Chance, dass uns jemand findet.«
»Außerdem … wenn der Sturm noch stärker wird, sind wir hier auch nicht mehr geschützt«, fügte Ralf hinzu und seine Stimme klang schon wieder etwas fester.
» Noch stärker?«, wiederholte Jenny ungläubig.
Ralf nickte mehrmals. »Ja, das ist noch gar nichts. Wenn es richtig losgeht, reißt es dich einfach mit, wenn du kein festes Dach über dem Kopf hast. Ich hab so was mal in der Hütte erlebt, zu der ich euch eigentlich bringen wollte. Ich hatte Schiss, das ganze Ding fliegt uns um die Ohren, das kannst du mir glauben.«
»Also, was machen wir jetzt?« Janik sah von einem zum anderen.
»Ich habe Hunger.« Julia wischte sich zum wiederholten Mal mit dem Unterarm durchs Gesicht. Mittlerweile sah sie aus wie eine Vogelscheuche. »Und außerdem muss ich mal.«
»Ich bin für weitergehen«, erklärte Fabian überflüssigerweise.
»Aber ich habe Hunger. Und Durst. Außerdem will ich nicht mehr durch diesen Regen kriechen.«
Ralf wandte sich an Tim. »Was meinst du?«
»Wie wäre es, wenn wir eine Kleinigkeit essen, bevor wir weiterziehen?« Mit Blick auf Julia fügte er hinzu: »Und wer muss, kann es vielleicht irgendwo um die Ecke versuchen.«
Ralf spähte in Richtung Himmel. »Gut, aber wir sollten keine Zeit verlieren, solange wir uns überhaupt noch im Freien bewegen können. Ich weiß nicht, was sich da draußen noch zusammenbraut.«
»Na ja, viel schlimmer kann es nicht mehr werden«, sagte Tim.
Er irrte sich gewaltig.
10
Es kostete sie große Überwindung, nach einer Weile den halbwegs geschützten Platz zu verlassen und sich wieder gegen das Unwetter zu stemmen. Ihnen war kalt, aber die nasse Kleidung hatte sich an ihren Körpern zumindest ein wenig aufgewärmt. Als erneut der heftige Regen sie mit seinen eiskalten Stichen folterte und ihre Kleidung aufs Neue durchnässte, begannen Tims Zähne in einem wilden Stakkato aufeinanderzuschlagen, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Tatsächlich hatte er das Gefühl, dass Wind und Regen noch aggressiver, noch kälter geworden waren.
Immer wieder stöhnte oder schrie jemand auf, der von umherfliegenden Teilen getroffen wurde. Die schwarzen Wolken über ihnen waren in ständiger Bewegung, so als formierten sie sich neu für den finalen Schlag der Natur gegen das kleine Grüppchen hilfloser Menschen.
Tim versuchte, den Anschluss an Ralf nicht zu verlieren und gleichzeitig Lena mit sich zu ziehen. Er spürte, dass ihre Energie schwand und er immer mehr Kraft aufwenden musste, damit sie nicht zurückfielen. Manchmal, wenn er den Kopf hob, um sich zu orientieren, wusste er im ersten Augenblick nicht mehr, ob sie noch geradeaus gingen oder abdrifteten. Sie waren Spielbälle dieses unglaublichen Orkans, und er trieb sie, wohin er wollte. Ralf schien es irgendwann aufgegeben zu haben, einen bestimmten Weg einzuschlagen, denn Tim fiel auf, dass sie jedes Mal die Richtung änderten, wenn der Wind ihnen entgegenschlug.
Einige Male versuchten sie, stehen zu bleiben und zu rasten, doch das gelang ihnen nicht, sie wurden einfach weitergedrückt, hinein in den Berg mit seinen Stolperfallen aus Geröllmassen, Steinen und Wurzeln. Tim wagte es nicht, sich vorzustellen, wie seine Beine und Knie nach den vielen Stürzen aussahen.
Willenlos ließen sie sich von dem Sturm vorantreiben und verwendeten ihre letzte noch vorhandene Energie darauf, zusammenzubleiben.
Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, brach über ihnen auch noch ein Gewitter los, wie es sich Tim in seinen schlimmsten Albträumen nicht hätte
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