Abgründig (German Edition)
denn er hoffte, zwischen den Bäumen etwas Schutz zu finden. Allerdings stellte sich das schnell als Trugschluss heraus, denn die Bäume standen weit auseinander, sodass der Wind durch die Schneisen fegte und dabei Äste, Zweige, Tannenzapfen und Ähnliches mit sich riss, die wie Geschosse auf ihre Körper knallten. Es war fast unmöglich, die Augen offen zu halten, weil sofort Tannennadeln und kleine Dreckklumpen hineingerieten.
Taumelnd und immer wieder stürzend, entfernten sie sich auf dem kürzesten Weg von den Bäumen, mühten sich einen weiteren Hügel hinauf und auf der anderen Seite hinunter.
Tim konnte schlecht einschätzen, wie lange sie unterwegs waren, als Ralf plötzlich unter einem kleinen Überhang stehen blieb und sich umsah. Vielleicht war eine Stunde vergangen, vielleicht auch mehr. Das Chaos um sie herum schien sogar den Zeitfluss durcheinandergewirbelt zu haben.
Wind und Regen wurden durch den Felsvorsprung etwas gebrochen und kamen gemäßigter bei ihnen an, wobei das immer noch schlimm genug war.
»Was verdammt noch mal ist los?«, wollte Sebastian wissen und schob sich die Kapuze seines Sweatshirts vom Kopf. »Wo ist diese beschissene Hütte denn jetzt?« Die Verständigung funktionierte an dieser Stelle sogar durch einfaches lautes Reden.
»Nichts ist los, ich … orientiere mich nur.« Ralf machte ein paar Schritte unter dem schützenden Vorsprung heraus und wurde sofort abgedrängt. Alle sahen ihm dabei zu, wie er sich ein Stück weiterkämpfte und, die Hand schützend über die Augen gehalten, nach allen Seiten umsah.
»So ein Mist!«, fluchte Janik und setzte den Rucksack ab. »Tolle Abenteuertour. Scheint sich ja wettermäßig wirklich gut auszukennen, der Bergprofi aus München. Das ist nicht mehr lustig.«
»Was sucht er?«, fragte Lena. Sie hatte es nicht übermäßig laut gesagt, sodass nur Tim sie verstand.
Er atmete schnaufend aus. »Hoffentlich nicht, woran ich gerade denke.«
Nach einer Weile kam Ralf zurück, und als Tim sein Gesicht sah, murmelte er: »Doch, ich befürchte, es ist genau das.«
»Was?«, fragte Sebastian. »Was ist? Nun red schon, Mann.«
Eine starke Böe fegte in ihren Unterschlupf und presste Julia und Fabian gegen den Fels. Als sie sich wieder aufgerichtet hatten, hielt Fabian sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf. Julia begann zu weinen. »Ich kann nicht mehr. Wie weit ist es denn noch bis zu der Hütte? Mir tut alles weh und ich friere. Ich will hier raus. Ich will nach Hause. Bitte!«
Ralf ließ sich mit der Antwort Zeit. Erst nach endlos scheinenden Sekunden sagte er: »Ich weiß es nicht.«
»Was?«, fuhr Janik hoch. »Was heißt das, du weißt es nicht?«
Ralf hob die Schultern. »Wir … sind durch den Sturm irgendwie weggedriftet, keine Ahnung. Jedenfalls kenne ich die Gegend nicht.« Und leiser fügte er hinzu: »Ich weiß nicht genau, wo wir sind.«
»Das ist nicht dein Ernst!« Lena sah entgeistert von Ralf zu Tim und wieder zurück. »Was sollen wir denn jetzt tun?«
»Wir haben uns verlaufen?«, schluchzte Julia und schlug die Hände vors Gesicht. »Oh Gott, oh Gott, wie schrecklich!«
Jenny schüttelte fassungslos den Kopf.
Plötzlich stand Sebastian vor Ralf. Sein mächtiger Brustkorb hob und senkte sich schnell, und Tim sah ihm an, dass er sich nur mühsam beherrschen konnte.
»Du wirst jetzt dein bisschen Grips gefälligst anstrengen«, sagte er mit gepresster Stimme. »Du warst doch angeblich schon hundertmal hier. Dann wirst du auch an dieser Stelle schon mal vorbeigekommen sein. Du hast uns verdammt noch mal hier reingeritten, jetzt bring uns auch wieder raus! Klar?«
»Ralf macht das schon«, warf Lucas zaghaft von der Seite ein. »Der kennt sich wirklich super aus.« Es klang nicht sehr überzeugt, aber wann war Lucas schon je überzeugt von dem, was er sagte oder tat? Mit einem Ruck drehte Sebastian sich zu ihm um, woraufhin Lucas den Kopf einzog wie eine erschrockene Schildkröte.
»Wenn noch einer was von auskennen erzählt oder so dämliche Sprüche bringt wie: Das wird schon , kann es gut sein, dass ich mich vergesse. Falls jemand von euch Schlaubergern das noch nicht mitbekommen hat: Wir haben ein Problem, Leute! Oder für die Schwerkapierer unter euch: Wir sitzen richtig dick in der Scheiße.«
»Wir müssen einfach nur weiter«, meinte Ralf, allerdings war dabei nichts mehr von der üblichen Selbstsicherheit in seiner Stimme zu hören. »Irgendwann kommen wir bestimmt an eine Hütte. Es gibt hier
Weitere Kostenlose Bücher