Abgründig (German Edition)
Sein Gesichtsausdruck ließ nichts Gutes vermuten, als er Fabian eine Weile stumm musterte. Niemand sagte ein Wort. Die Anspannung, die plötzlich im Raum herrschte, war fast greifbar. Tim überlegte schon, was sie tun sollten, wenn der Kerl sich auf Fabian stürzen würde, doch dann nickte der Junge und sagte: »Denis. Mein Name ist Denis, Klugscheißer.«
Alle glotzten Denis an, doch niemand sagte etwas, bis Tim sich ein Herz fasste. »Hallo Denis, ich bin Tim, aber das hast du ja wahrscheinlich schon mitbekommen.«
»Janik«, kam es von schräg hinter ihm, dann nannten nacheinander auch alle anderen ihre Namen. Denis hatte sich währenddessen schon wieder auf den Rücken gelegt und die Augen geschlossen.
»Na wunderbar«, sagte Ralf und schlug die Hände zusammen. »Dann kann unsere kleine Einstandsfeier mit verbotenen Getränken heute Abend ja starten.«
3
Am späteren Nachmittag holten sie sich im Materiallager ihre Grundausrüstung ab, die aus Helm, Klettergurten, Schuhen, Sicherungsgerät und Verschlusskarabiner bestand. Zusätzlich bekam jeder einen kakifarbenen Rucksack mit dem Schriftzug Bergcamp Grainau auf der Außenseite, in dem sie alles verstauen konnten. Das Materiallager war in dem einzigen Steingebäude des Camps untergebracht. In dem großen Bau gleich hinter der Rezeptionshütte befand sich auch der Speisesaal, wo sich die Jugendlichen dreimal am Tag zum Essen treffen sollten, sofern sie nicht unterwegs waren.
Sogar Denis war mitgekommen, und auch wenn er während der ganzen Zeit kaum ein Wort sprach, schien es Tim, als taute er langsam ein wenig auf.
Nachdem sie die Ausrüstung in die Unterkünfte gebracht hatten, machte Ralf sich mit Janik und Sebastian auf den Weg, um in Grainau Getränke zu besorgen.
Tim wollte die Zeit nutzen und sich das Camp etwas genauer ansehen. Fabian entschloss sich, mit ihm zu kommen, während Denis wieder mit geschlossenen Augen auf seinem Bett lag.
Während sie alles unter die Lupe nahmen, erfuhr Tim, dass Fabian noch einen älteren Bruder hatte, dem das Gymnasium im Gegensatz zu ihm große Mühe bereitete, und dass seinen Eltern eine kleine Boutique gehörte. Während ihres Gesprächs fiel Tim erneut auf, mit welcher Leichtigkeit der Vierzehnjährige mit Worten jonglierte und wie analytisch er die Dinge um sich herum betrachtete. Fabian selbst führte seine »Fähigkeit, vernünftig mit der deutschen Sprache umzugehen«, wie er es ausdrückte, darauf zurück, dass er schon von frühester Kindheit an sehr viel las. Er erzählte Tim, dass eine komplette Wand seines Zimmers mit einem gefüllten Bücherregal bis zur Decke zugestellt war und er alle diese Bücher auch gelesen hatte.
Auch wenn Fabian für sein Alter manchmal komische Sachen sagte, fand Tim ihn doch lustig.
Als sie wieder an ihrer Hütte ankamen, saß Lena vor ihrer Unterkunft auf dem Rand der kleinen Veranda und hielt ihr Gesicht mit geschlossenen Augen der tief stehenden Sonne entgegen. Tim zögerte kurz, dann erklärte er Fabian, er komme gleich nach, und ging zu ihr. Doch als er nur noch wenige Meter entfernt war, beschleunigte sich sein Puls und er spürte schon wieder dieses verdammte Prickeln auf der Stirn. Er blieb stehen. Das durfte doch nicht wahr sein. Was war denn nur mit ihm los? Er hatte doch sonst keine Probleme damit, sich mit Mädchen zu unterhalten, warum ausgerechnet bei diesem Mädchen? Er würde wieder puterrot anlaufen, wenn er sie nun ansprach. Diese Blamage brauchte er nicht noch einmal.
Wütend über sich selbst wandte er sich um und wollte gerade die Flucht antreten, als Lena hinter ihm »Hallo Tim« sagte und ihn damit erschrocken zusammenfahren ließ.
Langsam drehte er sich ihr zu und hoffte, dass sein verlegenes Lächeln nicht komplett dämlich aussah.
»Hast du es dir anders überlegt oder wolltest du gar nicht zu mir?«
»Nein … doch, schon. Ich … dachte, du schläfst.«
»Im Sitzen?« Lenas Lächeln war entwaffnend, und Tim hatte das deutliche Gefühl, dass sie ganz genau wusste, was mit ihm los war. Er legte die letzten paar Schritte zu ihr zurück, setzte sich umständlich neben sie und rieb seine Handflächen über seine Oberschenkel, ohne zu wissen, warum er das tat.
»Wie alt bist du?«, fragte Lena, nachdem sie ihm eine Weile zugesehen hatte. »Und wo kommst du her?«
»Sechzehn. Ich komme aus dem Saarland. Saarbrücken.«
»Saarbrücken kenne ich, meine Schwester studiert dort Medizin.«
»Ah, okay, und du?«
Wieder dieses Lächeln, das Tim
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