Abgrund der Lust
in der Hoffnung, dass er da sei.
Das erste Mal sollte eine Frau mit einem Mann wie Ihnen zusammen sein , hatte sie gesagt.
Dachte er, sie sei absichtlich in sein Haus eingedrungen, um sein Interesse zu wecken?
»Sind Sie Franzose?«, fragte sie impulsiv. Und fragte sich, ob die letzten sechs Monate ihr Gehirn vernebelt hatten. Was spielte es für eine Rolle, was für ein Landsmann er war? Ein Franzose konnte eine Frau ebenso leicht erschießen wie ein Engländer.
»Ich bin Franzose«, bestätigte er kühl. »Ein letztes Mal, Mademoiselle. Wie sind Sie an meinen Portiers vorbeigekommen?«
Victoria erinnerte sich an die beiden Männer, die den Eingang bewacht hatten: Einer hatte Haar, das glänzte wie gesponnenes Gold, nicht wie das gesponnene Silber des Mannes, der vor ihr stand; der andere Portier hatte Haar, das schimmerte wie üppiges Mahagoni.
Ihre Schönheit verblasste im Vergleich zu der ihres Dienstherrn.
»Ich habe ihnen gesagt, dass ich einen Beschützer brauche«, erklärte sie kurz angebunden. Und fragte sich, ob er ihr glauben würde.
»Und sie haben Sie hereingelassen?«, fragte er beißend; die silbernen Augen funkelten warnend.
Victoria straffte die Schultern. »Ich habe nicht die Angewohnheit zu lügen, Sir.«
»Tatsächlich nicht?« Der Zynismus in seinem Ton war unverkennbar.
»Nein«, bekräftigte Victoria.
»Auf der Straße liegt der Preis für die Jungfräulichkeit einer Frau bei fünf Pfund.«
Sie klammerte sich an ihren Stolz. Er war wesentlich bequemer als Angst. »Ich bin mir über den Wert der Jungfräulichkeit durchaus im Klaren.«
Ihr Ruf. Ihre Stellung. Ihr Leben …
»Warum haben Sie dann einhundertfünf Pfund verlangt?«
Weil sie nicht damit gerechnet hatte, sie zu bekommen.
»Finden Sie nicht, dass die Jungfräulichkeit einer Frau diese Summe wert ist, Sir?«, forderte sie ihn heraus.
»Ich finde, dass Frauen – und Männer – wesentlich mehr wert sind als hundertfünf Pfund«, erwiderte er rätselhaft.
Es war nicht die Antwort, die Victoria erwartet hatte.
»Weil Sie es genießen, Frauen zu deflorieren«, sagte sie zornig.
»Nein, Mademoiselle, weil ich für einhundertfünf Pfund verkauft wurde. Aber das wussten Sie ja bereits, nicht wahr?«
Worte hallten in ihren Ohren wider.
Sie haben Ihren Körper versteigert, Mademoiselle. Ich versichere Ihnen, das macht Sie zur Hure.
Und Sie haben meinen Körper gekauft, Sir.
Was macht das aus Ihnen?
Eine Hure …
Plötzlich wurde Victoria klar, wo sie seine Augen schon gesehen hatte: Auf den Straßen Londons, als sie anständige Arbeit gesucht hatte. Obdachlose besaßen den gleichen ausdruckslosen Blick. Männer, Frauen und Kinder, deren tägliches Los aus Hunger, Kälte und Hoffnungslosigkeit bestand. Männer, Frauen und Kinder, die gewohnheitsmäßig hurten, stahlen und töteten, um zu überleben, während andere um sie her starben.
Ihr Herz pochte gegen ihre Rippen.
»Wer sind Sie?«, raunte sie.
»Ich habe Ihnen schon gesagt, wer ich bin: Ich bin Gabriel.«
Der Eigentümer. Hure.
Aber nicht aus freien Stücken. Armut beraubte Männer – ebenso wie Frauen – einer freien Entscheidung.
»Es tut mir Leid«, sagte Victoria und wusste sofort, dass sie das Falsche gesagt hatte.
Dieser Mann, der gegen jede Wahrscheinlichkeit überlebt hatte, wollte kein Mitleid.
Schweigend versperrte er ihr den Weg; die schwarze Seidenhose streifte die Lederlehne des Queen-Anne-Sessels.
»Warum tut es Ihnen Leid, Mademoiselle?«, fragte er so leise, dass sie sich anstrengen musste, ihn zu verstehen.
Victoria weigerte sich, zurückzuschrecken, weder im buchstäblichen noch im übertragenen Sinne. »Es tut mir Leid, dass Sie gegen Ihren Willen verkauft wurden.«
»Aber es geschah nicht gegen meinen Willen, Mademoiselle«, entgegnete er in seidigem Ton. »Hat der Mann etwa vergessen, Ihnen das zu erzählen?«
»Wir tun, was wir tun müssen, um zu überleben.« Victoria ignorierte seinen Hinweis auf den Mann . »Das ist keine Frage des Wollens.«
Seine Nasenflügel bebten leicht. »Haben Sie heute Abend getan, was Sie tun mussten?«
Victoria straffte die Lippen. »Ja, ich habe heute Abend getan, was ich tun musste.«
»Sie haben eingewilligt, in mein Haus zu kommen und Ihre Jungfräulichkeit zu versteigern.«
Wut flammte in ihr auf; sie rang sie nieder. »Ich habe nicht eingewilligt, aber ich bin heute Abend zu diesem Zweck in Ihr Haus gekommen, ja.«
»Sie sind also eine unfreiwillige Komplizin«, hakte er
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