Abgrund der Lust
privat.«
»Ich frage Sie nicht um Erlaubnis« – er öffnete die Augen, starrte sie von oben herab an und sagte betont: »Victoria.«
Er war zehn Zentimeter größer als sie. Noch nie hatte Victoria sich so klein und hilflos gefühlt.
»Lassen Sie mich gehen«, wiederholte sie.
»Das kann ich nicht.«
Verzweiflung befiel sie.
»Sie haben Hunger kennen gelernt«, sagte sie unbesonnen.
»Es gibt viele Arten von Hunger, Mademoiselle.«
Hunger des Körpers. Hunger der Seele. Hunger des Fleisches.
Victoria scheute vor dem Letzteren zurück. Er durfte diese Briefe nicht lesen.
»Sie haben auf der Straße gelebt.«
»Ich wurde in Calais in der Gosse geboren.«
Calais, Frankreich, lag unmittelbar auf der anderen Seite des Ärmelkanals. War sein Körper in Frankreich oder England verkauft worden, fragte sie sich. Doch dann: Waren die Straßen in Frankreich sicherer als in England?
»Ich weiß nicht, welches Verbrechen ich Ihrer Ansicht nach begangen habe, Sir«, sagte sie in ihrem vernünftigsten Gouvernantenton. »Aber die Londoner Straßen werden mich wesentlich härter bestrafen als Sie. Ich bitte Sie noch ein Mal: Lassen Sie mich gehen.«
Er legte den Kopf schief. Die Kälte in seinen Augen raubte Victoria den Atem. »Sie haben Angst vor dem, was ich in den Briefen finden werde.«
Sie hatte Angst vor dem, was sie in den Briefen gefunden hatte.
»Sie wollen mich nicht«, wiederholte Victoria.
»Doch, Mademoiselle«, erwiderte er ohne Begierde in den silbernen Augen.
Nein, er wollte sie nicht, aber er wusste, dass sie ihn wollte.
Hatte er gewusst, dass sie seine Berührung in ihrem Körper gespürt hatte, als er die Lederfalte streichelte, fragte sie sich flüchtig.
Sofort tat sie diese Frage ab. Natürlich hatte er es gewusst. Jede Bewegung, jedes seiner Worte war berechnet.
»Wenn Sie mich wollten, hätten Sie mich genommen, Sir.«
Eine vertraute Starre legte sich auf Gabriel. Victorias Gesicht spiegelt sich in seinen Pupillen, zwei bleiche Kreise, schwarz umrahmt.
»Ich kann Sie nicht nehmen, Mademoiselle«, sagte er schließlich.
»Warum?«
Das Warum prallte an den Wänden ab.
»Weil Sie sterben werden, wenn ich Sie nehme.«
Weil Sie sterben werden lief ihr den Rücken hinunter.
»Ich kann sterben, wenn ich bei Ihnen bleibe; ich kann sterben, wenn ich gehe.« Sicher war das nicht Victoria, die da sprach, aber sie hörte ihre Stimme. »Ich denke, Sir, wenn ich schon sterben soll, möchte ich lieber nicht als Jungfrau sterben.«
Ihre gewagten Worte hingen in der Luft.
Seine Augen brannten.
Wie konnte silbernes Eis brennen, fragte Victoria sich in einem Teil ihres Hirns, das noch zu Fragen fähig war.
»Ich werde Sie nicht sterben lassen«, sagte er.
»Aber Sie haben doch gesagt, dass Sie es nicht garantieren können«, entgegnete Victoria.
Er antwortete nicht.
»Wenn Sie mich zwingen zu bleiben, werde ich Sie verführen, Sir«, behauptete Victoria aus reiner Prahlerei. Sie hatte keinerlei Vorstellung, wie man einen Mann verführte.
»Dann werden Sie die Konsequenzen tragen müssen, Mademoiselle.« Seine schwarzen Pupillen schluckten das Silber seiner Iris. »Ebenso wie ich.«
Es wurde dunkel um sie.
»Wieso glauben Sie, dass ich Ihnen ein Leid zufügen will?«, fragte Victoria. Und konnte die Verzweiflung in ihrer Stimme nicht verhehlen.
»Wieso haben Sie Angst davor, dass ich Ihre Briefe lese?«, entgegnete er.
»Vielleicht haben wir beide die gleiche Angst, Sir.«
»Was glauben Sie, wovor ich Angst habe, Mademoiselle?«, fragte er höflich.
In seinen Augen, seiner Stimme lauerte Tod.
Victoria hatte noch nie getötet, dieser Mann schon. Keine Sekunde bezweifelte sie, dass er es wieder tun würde.
»Ich glaube, Sie haben Angst, sich vom anderen Geschlecht berühren zu lassen, Sir.« Victoria umklammerte ihren Umhang, atmete Dunst, Feuchtigkeit, das bittere Aroma ihrer Angst.
»Sie glauben, ich habe Angst, mich vom anderen Geschlecht berühren zu lassen«, wiederholte er leise und ließ jedes Wort auf der Zunge zergehen. »Sie glauben, ich habe Angst, mich von Frauen berühren zu lassen. Haben Sie Angst, sich von Frauen berühren zu lassen, Mademoiselle?«
Sich von Frauen berühren zu lassen … wie er sich von Männern hatte berühren lassen?
Victoria schluckte. »Nein, ich habe keine Angst, mich von Frauen berühren zu lassen.«
»Wovor haben Sie dann Angst, Mademoiselle, wenn Sie meinen, dass wir dieselbe Angst teilen?«
»Ich habe Angst, mich von einem Mann berühren
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