Abgrund der Lust
gefrühstückt, solange er da war. Ob sie gegessen hatte, nachdem er gegangen war?
Gabriel kaufte einen Zimtmuffin. Kaum hatte er ihn gegessen, öffnete sich erneut die Tür des Stadthauses. Es war der Mann, den Gabriel suchte.
Er trug einen gewöhnlichen Mahagonistock in der rechten Hand. Der Stock mit dem Silberknauf in Gabriels Linker war eine Mahnung, dass nichts so war, wie es den Anschein hatte.
Gabriel stieß sich vom Parktor ab. Lässig schlenderte er über die Straße, stieg geschickt über einen Haufen dampfender Pferdeäpfel und schlängelte sich zwischen einem holpernden Omnibus und einem Maultierkarren hindurch. Er erreichte den Gehsteig.
Der Mann kam gemächlich die Treppe herunter und wandte sich nach Norden, in die dem Park entgegengesetzte Richtung. Schritte hallten durch den wabernden Nebel. Gabriels Schritte gesellten sich dazu.
Gabriel nahm den Stock in die rechte Hand und zog den Adams-Revolver aus dem Holster unter seinem Rock hervor; er hielt ihn in seinem Derby-Mantel verborgen.
Der Mann ging ein bisschen schneller. Ein Bobby stand an der nächsten Straßenecke. Eine Mietdroschke kam schnell auf den Mann und Gabriel zu. Der Mann hob den Arm, um sie anzuhalten. Gabriel blieb nichts anderes übrig, als rasch zu handeln.
»Sir. Sir!« Gabriel passte seinen Schritt dem des Mannes an. Mit leiser, unverfänglicher Stimme fragte er: »Sind Sie Mr. Thornton?«
Der Mann blieb stehen und musterte Gabriel argwöhnisch, den Arm immer noch erhoben. Er war konservativ gekleidet, mittleren Alters und hatte ein blasses, schmales Gesicht mit Sommersprossen. Er sah nicht aus wie ein Mann, der eine Frau terrorisieren würde. Während Gabriel genau wusste, dass er selbst aussah wie der Mann, der er war: ein Mann, der getötet hatte und wieder töten würde.
»Ja«, sagte der Mann nervös.
Sein erster Fehler. Skrupellos nutzte Gabriel die Harmlosigkeit des Mannes aus.
»Ihre Tochter Penelope hatte einen Unfall, Sir. Die Gouvernante, eine Miss Abercarthy« – die Dame in der Stellenvermittlung, die David ausgefragt hatte, hatte dem gut aussehenden Mann allzu bereitwillig alles erzählt, was er wissen wollte – »hat mich gebeten, Sie zu holen.«
Der Mann ließ den Arm sinken. Das Hufgeklapper der Mietdroschke zog an ihnen vorbei.
»Penelope!« Verwunderung zeichnete sich in der Miene des Mannes ab. »Wieso, was ist mit ihr? Wo ist sie?«
Gabriel brauchte nicht zu lügen.
»Sie ist im Park«, sagte er und wartete, ob er Gewalt anwenden musste.
Bereitwillig wandte der Mann sich zum Park. Es war gerade kein Verkehr. Schnell und mühelos überquerte Gabriel die Straße, als sei er in Eile, zum Unglücksort zurückzukehren. Der Mann folgte ihm eilig. Gemeinsam traten sie durch das offene Tor zum Park.
»Wo ist sie?«, fragte der Mann besorgt.
Kinderstimmen setzten ihr Spiel fort: » London bridge is falling down, falling down, falling down …« schallte es durch den nebeligen Park.
»Da drüben«, sagte Gabriel und ging auf eine dichtere Nebelbank und die Umrisse eines Baumes zu, fort von den spielenden Kindern. Unbedacht ging Thornton Gabriel in die Falle.
Gabriel stieß dem Mann den Knauf seines Gehstocks vor die Brust. Er prallte gegen den Baum und atmete mit hörbarem Zischen aus. Sein Hut rutschte ihm über ein Auge; gleichzeitig fiel ihm der Stock aus den Fingern. Gabriel drückte dem Mann den Silberknauf auf die Luftröhre und nagelte ihn damit wirkungsvoll am Baum fest; gleichzeitig hielt er ihm den blau plattierten Revolver ins Gesicht. Thornton keuchte mit schreckweiten Augen.
»Ich an Ihrer Stelle würde nicht schreien, Thornton.« Gabriels Atem schimmerte silbern im gelblichen Nebel. Er verringerte den Druck auf die Luftröhre des Mannes nicht. »Sie wollen doch nicht, dass Ihre beiden Töchter Sie mit weggeschossenem Gesicht sehen.«
»O, also …« Die Stimme des Mannes war schrill vor Hysterie, sein Atem vermengte sich mit Gabriels.
»Still«, warnte Gabriel leise.
»Mein Geld … ist im Mantel.« Das Weiß seines rechten Auges wirkte rund wie ein Miniaturmond. »Ich kann Sie bezahlen – ich bin ein reicher Mann –«
Victoria hatte gedacht, Gabriel wollte ihren Vater erpressen. Flüchtig wünschte er, der Mann vor ihm, wäre ihr Vater. Er würde ihm zeigen, wie wenig Geld zählte.
»Ich will Ihr Geld nicht, Thornton.«
Thorntons Augen traten vor. »Bitte, bringen Sie mich nicht um.«
Victoria hatte nicht um ihr Leben gebettelt. Hatte Thornton gehofft, sie dazu zu
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