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Abgrund der Lust

Abgrund der Lust

Titel: Abgrund der Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Schone
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schluckte sichtlich, »hat Dolly dafür bezahlt, mich an jenem Abend zu retten.«
    Und dann hatte er Dolly getötet. Ebenso wie er Victoria töten würde. Sie las die Wahrheit aus Gabriels Augen.
    »Am nächsten Morgen fand ich den ersten Brief unter meiner Tür«, sagte Victoria erschüttert.
    Gabriel wartete, bis sie sich das Puzzle zusammengereimt hatte. Begreifen leuchtete in ihren schreckmatten Augen auf; der Funke verlöschte und ließ das Begreifen zurück.
    »Es tut mir Leid«, sagte sie mit einer Ruhe, die nur aus dem Miterleben eines gewaltsamen Todes erwächst. In ihren Augen war kein Hunger, kein Verlangen nach der Berührung eines Engels. »Er schnappte mich von hinten. Sein Gesicht habe ich nie gesehen. Aber das spielt keine Rolle, nicht wahr? Er wird mich töten. Deshalb gab er Dolly die Tabletten für mich, nicht wahr? Er wird jeden töten, der mit ihm in Berührung kommt. Nicht wahr?«
    Gabriel wollte nicht lügen. »Ja.«
    »Sie haben heute mit Mr. Thornton gesprochen.«
    »Ja.«
    Gabriels Muskeln spannten sich noch stärker an; er wusste, in welche Richtung ihre Gedanken liefen, wusste, dass sie nur eine Schlussfolgerung ziehen konnte.
    »Mr. Thornton lebte noch.«
    Victoria sprach Gabriels Befürchtungen aus.
    »Aber wenn er und seine Frau mit diesem Mann, den Sie suchen, im Bunde stünden, wären sie tot, nicht wahr?«
    Aber wenn sie nicht mit dem zweiten Mann im Bunde standen, wurde Victoria von zwei Männern verfolgt, sagten ihre Augen. Der zweite Mann wollte sie töten. Was wollte der andere Mann?
    »Angst«, raunte Victoria.
    Gabriel lauschte angespannt, um sie zu verstehen, um sie zu trösten. »Was?«
    »Sie sagten, er habe mich meiner Augen wegen zu Ihnen geschickt.« Hungrige Augen.
    Ein Stich fuhr Gabriel in die Gedärme. »Ja.«
    »Nein.« Victoria starrte auf die Porzellanschüssel; Gabriel starrte auf ihren gesenkten Kopf. »Er hat mich nicht wegen meiner Augen ausgesucht.«
    Gabriel rang um Distanz.
    Sie kennen mich nicht , hatte Victoria ihm vorgeworfen.
    »Und was glauben Sie, weshalb er Sie ausgesucht hat?«, fragte Gabriel gepresst.
    Victoria hob den Kopf und schaute ihm in die Augen. »Er hat mich ausgesucht, weil ich Angst hatte. Und weil Sie Angst hatten.«
    Sie hatten immer noch Angst. Unter der Angst und dem Entsetzen in Victorias Augen schimmerte Erkenntnis. »Sie haben gesagt, Angst ist ein starkes Aphrodisiakum.«
    Die Feder in Gabriels Innerem spannte sich noch stärker.
    Sinnenlust. Mord.
    Angst war tatsächlich ein Aphrodisiakum. Männer und Frauen besaßen durch körperliche Liebe die Macht, neues Leben zu schaffen. Ein endgültiger Sieg über den Tod.
    »Mir ist kalt«, sagte Victoria unvermittelt. Ihre Brüste bebten. Sie zitterte.
    Thornton hatte vor Angst gezittert; Gabriel hatte nur Verachtung für ihn empfunden. Victoria zitterte vor Angst; Gabriel hätte am liebsten geweint über den Schmerz, den er ihr brachte. Er weinte nicht. Engel weinten nicht.
    Ihre Unterlippe bebte. »Ich glaube nicht, dass mir je wieder warm wird.«
    Gabriel besaß die Macht, sie zu wärmen. Mit zitternden Knien kam er ins Badezimmer. Kupfer glänzte; der Spiegel schimmerte. Die Wände schlossen ihn ein. Victoria sah zu ihm auf. Erwartete keine Wärme. Keinen Trost. Gabriel trat hinter sie, unfähig, ihr in die Augen zu sehen.
    Victoria machte ihm keinen Vorwurf, dass er eine Hure war. Dass er sie in Gefahr gebracht hatte. Dass er ihr keinen körperlichen Trost bot.
    Gabriel wünschte, sie würde ihm Vorwürfe machen. Mit weit gespreizten Knien hockte er sich hinter sie; ihr Haar schimmerte wie ein dunkler Wasserfall. Langsam, behutsam legte er ihr den seidenen Morgenmantel um die Schultern. Spürte ihre Wärme und Zerbrechlichkeit; atmete ihre Weiblichkeit und Verletzlichkeit ein. Fast berührte er sie, wagte es aber nicht.
    »Ich lass nicht zu, dass er dir wehtut«, murmelte er.
    Beide wussten, dass er log. Gabriel konnte den zweiten Mann nicht aufhalten. Er konnte lediglich versuchen, den zweiten Mann zu finden, bevor dieser einen Weg zu Victoria fand.

Kapitel 14
    Gelber Nebel umschlang London wie die Arme eines Besitz ergreifenden Liebhabers. Vorsichtig bahnte eine Mietdroschke sich einen Weg durch den vom Rauch der Kohlenfeuer geschwängerten Dunst, der ein Preis menschlichen Lebens war.
    Sie wären tot, nicht wahr?, klapperten die Pferdehufe. Sie wären tot, nicht wahr?
    Sie wären sicher tot, wenn sie mit dem zweiten Mann im Bunde stünden. Aber die Thorntons waren nicht tot.

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