Abgrund: Roman (German Edition)
zu abrupt, und der andere zuckt ein wenig zusammen, als hätte er sich erschreckt.
Scanlon schaltet durch die Stimmkanäle. Nichts. Nach einer Weile streckt die Frau beinahe zögerlich die Hand aus und berührt das Reptil. Irgendwie wirkt diese Geste auf fremdartige Weise sanft. Dann dreht sie sich um und schwimmt in die Dunkelheit davon. Das Reptil bleibt zurück und trudelt langsam um die eigene Achse. Schließlich ist sein Gesicht zu sehen.
Seine Kapuze steht offen. Das Gesicht ist so blass, dass Scanlon kaum sagen kann, wo die Haut endet und wo die Augenkappen anfangen. Fast sieht es so aus, als hätte das Geschöpf keine Augen.
Unter dem Arm hält es die zerfetzten Überreste eines der Fischungetüme der Channer-Quelle. Vor Scanlons Augen hebt das Reptil sie zum Mund, beißt ein Stück davon ab und schluckt es hinunter.
Die Stimme im Schlund wimmert in der Ferne, doch das Reptil scheint es nicht zu bemerken.
In die Schultern seiner Uniform ist das Logo der Netzbehörde eingeprägt. Darunter befindet sich das übliche Namensschild.
Wer … ?
Das leere Gesicht gleitet ohne anzuhalten an Scanlons Versteck vorbei. Kurz darauf ist es wieder von ihm abgewandt.
Es ist ganz allein hier draußen und macht keinen gefährlichen Eindruck.
Scanlon stützt sich auf den Felsbrocken und stößt sich davon ab. Der Wasserwiderstand verlangsamt seine Bewegung augenblicklich. Das Reptil hat ihn nicht bemerkt. Scanlon macht einige Schwimmzüge. Er ist nur noch wenige Meter entfernt, ehe es ihm wieder einfällt.
Der Ganzfeld-Effekt. Und wenn es hier nun einen Ganzfeld-Effekt gibt …
Plötzlich dreht sich das Reptil um und blickt ihn direkt an.
Scanlon stürzt nach vorn. Eine weitere Millisekunde, und er hätte das Geschöpf nicht mehr erreicht, doch er hat Glück; er erwischt eine seiner Schwimmflossen, während es davonschwimmt. Der andere Fuß des Wesens tritt nach ihm und prallt von seinem Helm ab. Noch einmal trifft der Fuß, dieses Mal weiter unten; Scanlons Echolotpistole löst sich von seinem Gürtel.
Er hält weiter fest. Nun stürzt sich das Reptil mit beiden Fäusten auf ihn, ohne einen Laut von sich zu geben. Durch das Gewebe des Taucheranzugs spürt Scanlon die Schläge kaum. Mit der Verzweiflung von jemandem, der als Kind stets als Prügelknabe herhalten musste, schlägt er zurück. Er ist wieder in die Ecke gedrängt, und Selbstverteidigung ist das Einzige, was ihm bleibt.
Bis ihm bewusst wird, dass seine Schläge dieses Mal aus irgendeinem Grund Wirkung zeigen.
Er hat es hier nicht mit dem Tyrannen der Nachbarschaft zu tun. Er bezahlt nicht den Preis dafür, dass er den Australopithecinen in der örtlichen Drink’n’Drug-Bar aus Versehen in die Augen geblickt hat. Er kämpft gegen einen kleinen, dürren Freak, der einfach nur fliehen will. Und zwar vor ihm. Der Typ ist richtiggehend schwächlich.
Zum ersten Mal in seinem Leben gewinnt Yves Scanlon einen Faustkampf.
Sein erster Schlag trifft sein Ziel wie eine gepanzerte Keule. Sein Gegner wirft sich herum und strampelt. Scanlon packt fester zu und dreht ihm den Arm auf den Rücken. Sein Opfer rudert hilflos mit den Gliedmaßen.
»Du gehst nirgendwohin, Freundchen.« Endlich hat er einmal Gelegenheit, diesen herablassend verächtlichen Tonfall auszuprobieren, den er geübt hat, seit er sieben Jahre alt war. Er klingt gut. Er klingt selbstsicher, beherrscht. »Nicht, ehe ich herausgefunden habe, was, zum Teufel, hier vor sich …«
Die Lichter gehen aus.
Der gesamte Schlund liegt plötzlich im Dunkeln. Es dauert eine Weile, bis die Nachbilder in seinen Augen verblassen, doch schließlich kann Scanlon in weiter Ferne ein schwaches graues Leuchten ausmachen. Beebe.
Vor seinen Augen erstirbt auch dieses Licht. Das Geschöpf in seinen Armen hält nun ganz still.
»Lassen Sie ihn los, Scanlon.«
»Clarke?« Es könnte Clarke sein. Der Stimmwandler verbirgt nicht alles. Es gibt ganz leichte Unterschiede, die Scanlon gerade erst zu erkennen beginnt. »Sind Sie das?« Es gelingt ihm, seine Stirnlampe einzuschalten, doch ganz gleich, wohin er sie richtet, es ist nichts zu sehen.
»Sie brechen ihm die Arme«, sagt die Stimme.
Clarke. Sie muss es sein.
»So« – stark – »ungeschickt bin ich nun auch wieder nicht«, sagt Scanlon an die Tiefe gewandt.
»Das ist auch nicht nötig. Seine Knochen sind entkalkt.« Einen Moment lang herrscht Schweigen. »Er ist zerbrechlich.«
Scanlon lockert seinen Griff ein wenig. Er dreht sich hin und her und
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