Abgrund: Roman (German Edition)
»Ihrem Bericht zufolge, ist sie dort unten mehr oder weniger die Anführerin. Und Lubin ist – war – der größte Unsicherheitsfaktor. Nun, da er fort ist, könnte Clarke die anderen vielleicht an der Kandare halten. Wenn wir Clarke erreichen können.«
Scanlon schüttelte den Kopf. »Clarke ist keine Anführerin. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne. Sie bestimmt ihr eigenes Verhalten unabhängig von den anderen, und diese … folgen einfach ihrem Beispiel. Wir haben es hier nicht mit einem der üblichen Machtgefüge zu tun, so wie Sie es kennen.«
»Aber wenn die anderen ihrem Beispiel folgen, so wie Sie gesagt haben …«
»Ich nehme an«, sagte Scanlon bedächtig, »dass Clarke noch am ehesten einem Befehl Folge leisten würde, in der Riftzone zu bleiben, ganz egal, wie schlecht die Lage dort aussieht. Schließlich neigt sie zur Unterwerfung.« Er hielt inne.
»Natürlich könnten Sie auch versuchen, ihnen die Wahrheit zu sagen«, schlug er vor.
Rowan nickte. »Das wäre sicherlich eine Möglichkeit. Und was glauben Sie, wie sie reagieren würden?«
Scanlon erwiderte nichts.
»Würden sie uns vertrauen?«, fragte Rowan.
Scanlon lächelte. »Hätten sie denn Grund dazu?«
»Wahrscheinlich nicht.« Rowan seufzte. »Aber egal, was wir ihnen sagen, das Problem bleibt das gleiche. Was werden sie tun, wenn sie erfahren, dass sie dort unten festsitzen?«
»Wahrscheinlich gar nichts. Schließlich gefällt es ihnen dort.«
Rowan musterte ihn neugierig. »Es überrascht mich, dass Sie das sagen, Doktor.«
»Warum?«
»Im Augenblick gibt es keinen Ort, wo ich lieber wäre als in meinem Apartment. Doch in dem Moment, in dem mich jemand unter Hausarrest stellt, würde ich alles daran setzen, um es zu verlassen. Und ich habe immerhin noch all meine sieben Sinne beisammen.«
Auf Letzteres ging Scanlon nicht weiter ein. »Da haben Sie wohl recht«, gab er zu.
»Das ist ein ziemlich wesentlicher Punkt«, sagte sie. »Es überrascht mich, dass jemand mit Ihrer Fachkenntnis ihn übersehen kann.«
»Ich habe ihn nicht übersehen. Ich bin nur der Meinung, dass da andere Faktoren eine größere Rolle spielen.« Äußerlich lächelte Scanlon. »Wie Sie schon sagten, Sie haben immerhin Ihre sieben Sinne beisammen.«
»Jedenfalls noch.« Rowans Augen trübten sich von einem Datenstrom, der plötzlich darüberfloss. Einen Moment lang blickte sie ins Leere, während sie die Lage abschätzte. »Entschuldigen Sie. An einer anderen Front gibt es gerade Schwierigkeiten.« Sie richtete den Blick wieder auf Scanlon. »Fühlen Sie sich manchmal schuldig, Yves?«
Er lachte und beherrschte sich sogleich wieder. »Schuldig? Warum?«
»Wegen des Projekts. Wegen dem … was wir ihnen angetan haben.«
»Dort unten geht es ihnen besser, glauben Sie mir. Ich weiß das.«
»Tatsächlich?«
»Besser als jeder andere, Ms. Rowan. Das wissen Sie doch. Deshalb sind Sie schließlich heute zu mir gekommen.«
Sie antwortete nicht.
»Außerdem«, fügte Scanlon hinzu, »hat niemand sie gezwungen, dort hinunterzugehen. Sie haben es freiwillig getan.«
»Ja«, stimmte Rowan leise zu. »Sie haben recht.«
Dann streckte sie den Arm durch das Fenster hindurch.
Die Isolationsmembran legte sich um ihre Hand wie flüssiges Glas. Sie überzog die Umrisse ihrer Finger, ohne auch nur eine Falte zu werfen, legte sich wie eine durchsichtige Schutzhülle um Handfläche, Gelenk und Unterarm, bis kurz vor dem Ellbogen, wo sie sich von ihrem Arm löste und wieder zur Fensterscheibe auslief.
»Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Yves«, sagte Rowan.
Nach kurzem Zögern schüttelte Scanlon die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. Sie fühlte sich wie ein Kondom an, leicht feucht und klebrig. »Gern geschehen«, sagte er. Rowan zog den Arm zurück und wandte sich ab. Die Membran glättete sich hinter ihr wie eine Seifenblase.
»Aber …«, sagte Scanlon.
Sie drehte sich wieder um. »Ja?«
»War das alles, was Sie wissen wollten?«, fragte er.
»Für den Augenblick, ja.«
»Wenn Sie gestatten, Ms. Rowan. Es gibt vieles, was Sie über die Menschen dort unten nicht wissen. Sehr vieles. Ich bin der Einzige, der Ihnen mehr darüber berichten kann.«
»Das weiß ich sehr zu schätzen, Y…«
»Das ganze Geothermalprogramm hängt von den Riftern ab. Das wissen Sie doch bestimmt.«
Sie trat wieder einen Schritt auf die Membran zu. »Ich weiß es, Dr. Scanlon. Glauben Sie mir. Im Augenblick muss ich mich allerdings noch um einige
Weitere Kostenlose Bücher