Abgrund: Roman (German Edition)
die Chemie nicht. Lubin ist ein sehr gefährlicher Mann. Nur nicht für sie.
Sie lächelt in sich hinein. Jemanden zu schlagen heißt, sich nicht entschuldigen zu müssen.
Jedenfalls nicht, bevor es zu spät ist.
Sie hat es inzwischen ziemlich satt, allein in ihrer Kabine zu sein. Sie mit jemandem zu teilen, behagt ihr allerdings noch viel weniger.
Lenie Clarke liegt in ihrer Koje und blickt an sich hinunter. Jenseits ihrer Zehen starrt eine zweite Lenie Clarke ihr mit kühlem Blick entgegen. Die mit Rohren überzogene Oberfläche des vorderen Schotts umgibt ihr gespiegeltes Gesicht wie ein auf den Kopf gestellter Miniaturschrottplatz.
Die Kamera hinter dem Spiegel muss das Gleiche sehen wie sie, nur an den Rändern ein wenig verzerrt. Clarke nimmt an, dass es sich um Weitwinkelobjektive handelt; die Netzbehörde wird sicher auch die Kabinenecken im Blick behalten wollen. Was nützt ein Experiment, wenn man seine Versuchskaninchen nicht komplett überwachen kann?
Sie fragt sich, ob sie gerade beobachtet wird. Wahrscheinlich nicht; zumindest nicht von einem Menschen. Sicher haben sie irgendeine gleichgültige Maschine, die niemals müde wird und ihr unerbittlich dabei zusieht, wie sie arbeitet, aufs Klo geht oder sich einen abwichst. Sicher ist sie darauf programmiert, einen echten Menschen zu benachrichtigen, sobald Clarke etwas Interessantes tut.
Etwas Interessantes . Wer legt die Parameter dafür fest? Halten sie sich strikt an die Ziele des Experiments oder hat jemand darüber hinaus noch einige persönliche Vorlieben mit einprogrammiert? Holt sich womöglich jemand anderes einen runter, wenn Lenie es tut?
Sie dreht sich auf dem Bett um und betrachtet das Schott am Kopfende. Ein Bündel aus spaghettiähnlichen Glasfaserkabeln ragt neben ihrer Pritsche aus dem Boden, schlängelt sich in der Mitte der Wand hoch und verschwindet in der Decke. Die Verbindungskabel des Seismografen, die zur Kommunikationszentrale führen. Der Luftstrom aus der Einlassöffnung der Klimaanlage haucht über ihre Wange hinweg. Dahinter wird das Licht, das durch das Gitter dringt, von einer metallenen Iris zurückgeworfen, die sich sofort zusammenziehen würde, sollte Delta-p einen bestimmten kritischen Wert in Millibar pro Sekunde übersteigen. Beebe ist eine Villa mit vielen Zimmern, die sich im Notfall alle selbsttätig isolieren können.
Clarke sinkt auf die Koje zurück und lässt die Hand auf das Deck baumeln. Das Fernmessmodul am Boden ist inzwischen beinahe trocken. Auf seiner Oberfläche bilden sich Krusten aus feinen Salzrinnsalen, während das Meerwasser verdunstet. Es ist ein einfaches Modell mit breitem Spektrum, das mit einem halben Dutzend Sensoren gespickt ist: für seismische Aktivität, Temperatur, Strömung sowie die üblichen Sulfate und organischen Verbindungen. Sensorenköpfe überziehen sein Gehäuse wie Nägel einen Streitkolben.
Und das ist auch der Grund, warum es hier ist.
Sie schließt die Finger um den Haltegriff und hebt das Modul vom Boden hoch. Es ist schwer. Im Meerwasser besitzt es natürlich keinen Auftrieb, aber den technischen Daten zufolge wiegt es in der Atmosphäre 9,5 Kilo. Es ist von einer äußerst widerstandsfähigen, druckfesten Kapsel umgeben. Ein aktiver Raucher bei fünfhundert Atmosphären könnte dem Ding nichts anhaben.
Vielleicht ist es ein wenig übertrieben, damit einen einfachen Spiegel zu zerschlagen. Schließlich hat Ballard das Gleiche mit bloßen Händen geschafft.
Merkwürdig, dass sie nicht aus bruchfestem Glas bestehen.
Aber umso besser.
Clarke setzt sich auf und hebt das Modul an. Ihr Spiegelbild blickt sie an; seine Augen sind ausdruckslos, wenn auch nicht leer, und wirken irgendwie belustigt.
»Ms. Clarke? Geht es Ihnen gut?« Es ist Lubin. »Ich habe gehört …«
»Alles in Ordnung«, sagt sie in Richtung der geschlossenen Luke. Überall in der Kabine ist Glas verstreut. Eine hartnäckige Scherbe von etwa einem halbem Meter Länge hängt immer noch in ihrem Rahmen wie ein loser Zahn. Sie streckt die Hand aus, während Bruchstücke des Spiegels von ihren Schenkeln herabrieseln, und tippt dagegen. Die Scherbe fällt zu Boden und zerschellt.
»Ich räume bloß auf«, ruft Clarke.
Lubin sagt nichts dazu. Sie hört ihn den Korridor entlang davongehen.
Sie werden gut miteinander auskommen. Er ist jetzt seit ein paar Tagen hier und stets sorgfältig darauf bedacht, Abstand zu wahren. Zwischen ihnen besteht keinerlei sexuelle Anziehung, nichts, weswegen sie
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