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Abgrund: Roman (German Edition)

Abgrund: Roman (German Edition)

Titel: Abgrund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Watts
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Ding mit den Augen, dieser Lumpenhaufen am Fuß des Pfeilers. Ein Junge.
    Ein kleiner Junge.
    So macht man das, wenn man jemanden wirklich liebt, hatte Schatten immer gesagt. Schließlich könnte das Kind hier draußen sterben.
    »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Fischer.
    Der Lumpenhaufen regte sich ein wenig und wimmerte.
    »Schon gut. Ich will dir nichts tun.«
    »Ich habe mich verlaufen«, sagte der Lumpenhaufen mit äußerst merkwürdiger Stimme.
    Fischer trat einen Schritt vor. »Gehörst du zu den Flüchtlingen?« Die nächste Flüchtlingszone war über hundert Kilometer entfernt und gut bewacht, aber manchmal entkam trotzdem jemand.
    Die Augen wanderten hin und her: Nein .
    Aber, dachte Fischer, was sollte er auch sonst sagen? Vielleicht hat er Angst, dass ich ihn der Polizei übergebe.
    »Wo wohnst du?«, fragte er und lauschte aufmerksam der Antwort:
    »Orlando.«
    Die Aussprache des Jungen klang weder asiatisch noch hindisch. Als Fischer noch ein Kind gewesen war, hatte seine Mutter immer gesagt, Katastrophen seien farbenblind, aber heute wusste er es besser. Das Kind klang so, als würde es von der nordamerikanischen Pazifikküste stammen, es war also offenbar doch kein Flüchtling. Und das bedeutete, dass vermutlich jemand nach ihm suchte.
    Schade eigentlich …
    Hör auf .
    »Orlando«, wiederholte er laut. »Dann hast du dich wirklich verlaufen. Wo sind denn deine Eltern?«
    »Im Hotel.« Der Lumpenhaufen löste sich vom Pfeiler und kam auf ihn zugeschlurft. »In Vanceattle.« Die Stimme des Jungen klang irgendwie pfeifend, als würde er durch seine Nebenhöhlen sprechen. Vielleicht litt er unter einem – Fischer grübelte über das Wort nach –, einem Wolfsrachen oder etwas in der Art.
    »In Vanceattle? Wie heißt das Hotel?«
    Ein Achselzucken.
    »Hast du keine Uhr?«
    »Habe ich verloren.«
    Du musst ihm helfen, sagte Schatten.
    »Tja, also, schau mal.« Fischer rieb sich die Schläfen. »Ich wohne hier in der Nähe. Wir können sie von dort aus anrufen.«
    Im Landesinneren gab es nicht allzu viele Vanceattles. Die Polizei würde es vielleicht nicht einmal herausfinden. Und selbst wenn, würden sie ihn nicht anklagen. Nicht dafür. Was sollte er denn tun? Das Kind den Organhändlern überlassen?
    »Ich bin Gerry«, sagte Fischer.
    »Kevin.«
    Kevin schien etwa neun oder zehn Jahre alt zu sein. Jedenfalls alt genug, um zu wissen, wie man ein öffentliches Terminal bediente. Irgendetwas stimmte jedoch nicht mit ihm. Er war zu groß und dünn, und seine Gliedmaßen waren einander beim Laufen im Weg. Vielleicht hatte er einen Hirnschaden. Womöglich war er eins von diesen missratenen Nanotech-Babys. Oder vielleicht hatte seine Mutter während der Schwangerschaft auch einfach zu viel Zeit im Freien verbracht.
    Fischer brachte Kevin in seine Zwei-Zimmer-Teilzeitwohnung. Ohne zu fragen, ließ sich Kevin auf das Sofa sinken. Fischer sah im Kühlschrank nach und fand eine Kräuterlimonade. Der Junge nahm sie mit einem nervösen Lächeln entgegen. Fischer setzte sich neben ihn und legte ihm beruhigend die Hand auf den Oberschenkel.
    Jeglicher Ausdruck wich aus Kevins Gesicht, als hätte jemand einen Stöpsel gezogen.
    Mach weiter, sagte Schatten. Er beschwert sich doch nicht, oder?
    Kevins Kleider waren schmutzig. Seine Hose war schlammverkrustet. Fischer streckte die Hand aus und kratzte ein wenig von der Kruste ab. »Wir sollten dir diese Kleider ausziehen und dich waschen. Wir dürfen hier nur an geraden Tagen duschen, aber du kannst gern ein Bad nehmen …«
    Kevin saß einfach nur da. Mit der einen Hand hielt er sein Getränk umklammert; seine knochigen Finger dellten das Plastik des Bechers ein. Die andere Hand ruhte reglos auf dem Sofa.
    Fischer lächelte. »Alles ist gut. So macht man das, wenn man jemanden wirklich …«
    Kevin blickte zitternd zu Boden.
    Fischer tastete nach dem Reißverschluss und zog ihn auf. Er schob sanft seine Hand in die Öffnung. »Alles ist gut. Alles ist gut. Du brauchst keine Angst zu haben.«
    Kevin hörte auf zu zittern und hob den Blick.
    Er lächelte.
    »Ich bin nicht derjenige, der hier Angst haben sollte, Arschloch«, sagte er mit seiner pfeifenden Kinderstimme.
    Ein Stromstoß warf Fischer zu Boden. Er starrte an die Decke, während seine Finger zuckten und seine Arme schwer wie Blei waren. Sein gesamtes Nervensystem summte, einem Netz aus Hochspannungsleitungen gleich.
    Seine Blase entleerte sich. Feuchte Wärme breitete sich in seinem Schritt aus.
    Kevin

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