Abgrund: Roman (German Edition)
stand über ihm und blickte auf ihn hinab – jetzt wirkten seine Bewegungen gar nicht mehr unbeholfen. In einer Hand hielt er immer noch den Plastikbecher, in der anderen einen Elektroschocker.
Kevin leerte seinen Becher über Fischer aus. Fischer sah die Flüssigkeit im Zeitlupentempo herabstürzen und auf sein Gesicht platschen. Seine Augen brannten. Kevin war nur noch eine verschwommene dürre Gestalt hinter einem Schleier aus säuerlicher Flüssigkeit. Fischer versuchte, zu blinzeln, doch erst beim zweiten Versuch gelang es ihm.
Eins von Kevins Beinen schwang am Knie nach hinten.
»Gerald Fischer, Sie sind verhaftet …«
Das Bein schwang wieder nach vorn. Schmerz durchzuckte Fischers Seite.
» … wegen unsittlichen Verhaltens gegenüber einem Minderjährigen …«
Zurück. Nach vorn. Schmerz.
»… nach Abschnitt 151 und 152 des Strafgesetzbuches der nordamerikanischen Pazifikküste.«
Das Kind kniete nieder und funkelte Fischer wütend an. Aus der Nähe waren die verräterischen Zeichen deutlich zu erkennen: sein wissender Blick, die Größe seiner Poren, die kunststoffartige Elastizität der Haut eines Erwachsenen, der mit Androgensuppressiva behandelt worden war.
»Ganz zu schweigen davon, dass Sie erneut gegen ein richterliches Verbot verstoßen haben«, fügte Kevin hinzu.
Wie lange?, fragte sich Fischer abwesend. Die Nachwirkungen des Stromstoßes schienen die Welt immer noch in einen Dunstschleier zu hüllen. Wie viele Monate dauerte es, sich von einem Mann in ein Kind zurückzuverwandeln?
»Sie haben das Recht, zu … Ach, was soll’s.«
Und wie lange dauerte es, um die Umkehrung wieder rückgängig zu machen? Könnte Kevin jemals wieder erwachsen werden?
»Sie kennen Ihre verdammten Rechte besser als ich.«
Irgendetwas stimmte hier nicht. Die Polizei würde kaum einen solchen Aufwand betreiben. Dazu fehlten ihr die Mittel. Und warum auch? Wieso sollte irgendjemand eine solche Umwandlung auf sich nehmen? Nur um Gerry Fischer zu erwischen? Warum?
»Ich sollte Sie wahrscheinlich auf der Stelle melden, nicht wahr? Aber vielleicht lasse ich Sie auch noch eine Weile hier in Ihrer eigenen Pisse liegen …«
Irgendwie hatte er das Gefühl, dass Kevin noch mehr litt als er selbst. Das konnte er sich nicht erklären.
Alles ist gut, sagte Schatten leise zu ihm. Es ist nicht deine Schuld. Sie verstehen das einfach nicht.
Kevin trat erneut zu, doch Fischer spürte es kaum. Er versuchte etwas zu sagen, irgendetwas, um seinem Peiniger Trost zu spenden, doch seine motorischen Nerven funktionierten noch nicht.
Weinen konnte er allerdings. Dafür waren wohl andere Nervenverbindungen zuständig.
Diesmal war es anders. Es fing genauso an wie sonst, die Scans und die Tests und die Schläge, doch dann nahmen sie ihn beiseite, wuschen ihn und brachten ihn in einen Nebenraum. Zwei Wärter setzten ihn an einen Tisch, an dem bereits ein dicklicher kleiner Mann saß, dessen Gesicht von Leberflecken übersät war.
»Hallo Gerry«, sagte der Mann und tat so, als würde er Fischers Verletzungen gar nicht bemerken. »Ich bin Dr. Scanlon.«
»Sie sind Psychiater?«
»Eigentlich bin ich eher so etwas wie ein Mechaniker.« Er schenkte ihm ein geziertes kleines Lächeln, das zu sagen schien: Ich habe gerade eine furchtbar kluge Bemerkung gemacht, aber Sie sind zu blöd, um den Witz zu begreifen. Fischer kam zu dem Schluss, dass er Scanlon nicht besonders mochte.
Allerdings waren ihm solche Typen schon oft nützlich gewesen, mit all ihrem Gerede über »Kompetenz« und »die Verantwortung eines Kriminellen« . Nicht so sehr die Tat selbst zählte, hatte Fischer erfahren, sondern warum man sie begangen hatte. Hatte man es getan, weil man böse war, dann steckte man ernsthaft in Schwierigkeiten. Tat man es jedoch, weil man krank war, dann setzten sich die Ärzte manchmal für einen ein. Also hatte Fischer gelernt, krank zu sein.
Scanlon holte ein Stirnband aus seiner Brusttasche. »Ich würde mich gern ein wenig mit Ihnen unterhalten, Gerry. Würde es Ihnen etwas ausmachen, das hier für mich anzulegen?«
Die Innenseite des Bandes war mit Sensoren übersät. Es fühlte sich kühl auf der Stirn an. Fischer schaute sich im Raum um, doch er konnte keine Monitore oder Anzeigegeräte entdecken.
»Sehr gut.« Scanlon nickte den Wärtern zu und wartete, bis sie den Raum verlassen hatten, ehe er weitersprach.
»Sie sind ein merkwürdiger Fall, Gerry Fischer. Auf solche wie Sie stoßen wir nicht allzu oft.«
»Die
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