Abgrund: Roman (German Edition)
einander an die Gurgel gehen sollten. Was immer Ken Lubin Lana Cheung angetan hat – oder was sie einander angetan haben –, es wird hier keine Rolle spielen. Lubins Vorlieben sind zu speziell.
Und Clarkes ebenso.
Sie steht auf und zieht den Kopf ein, um nicht gegen die Metallverkrustungen an der Decke zu stoßen. Glas knirscht unter ihren Füßen. Das Schott, das hinter dem Spiegel zum Vorschein gekommen ist, sieht im Licht der Neonlampen ölig aus; eine gerippte graue Fläche, mit nur zwei hervorstechenden Merkmalen. Das erste ist eine kugelförmige Linse, kleiner als ein Fingernagel, die in einer Ecke angebracht ist. Clarke zieht sie aus ihrer Fassung und hält sie einen Moment lang zwischen Daumen und Zeigefinger. Ein winziges gläsernes Auge. Sie lässt sie auf das funkelnde Deck fallen.
Das andere ist ein Name, der in eine der Kühlrippen eingestanzt ist: ANLAGENBAU HANSEN.
Es ist das erste Mal, seit sie hier unten ist, dass sie einen Firmennamen sieht, abgesehen vom Logo der Netzbehörde, das in die Schultern ihrer Taucheranzüge geprägt ist. Irgendwie kommt ihr das seltsam vor. Sie überprüft die Lichtleiste, die sich über die gesamte Länge der Decke erstreckt – sie ist weiß und trägt keinerlei Kennzeichen. Ein Hydrox-Tank für Notfälle neben der Luke: Herstellungsdatum, Druckspezifikationen, aber kein Firmenname.
Sie weiß nicht, ob sie dem Ganzen Bedeutung beimessen soll.
Jetzt ist sie endlich allein. Die Luke ist geschlossen, sie wird nicht mehr überwacht – selbst ihr eigenes Spiegelbild ist unwiederbringlich zerstört. Zum ersten Mal empfindet Lenie Clarke im Innern der Station ein Gefühl von Sicherheit. Sie weiß nicht recht, was sie damit anfangen soll.
Vielleicht kann ich mich ein wenig entspannen. Ihre Hände wandern zu ihrem Gesicht.
Im ersten Moment glaubt sie, sie sei blind geworden. Die Kabine kommt ihr ohne ihre Augenkappen merkwürdig dunkel vor, Wände und Möbel sind kaum mehr als vage Schatten. Sie erinnert sich, dass sie in den Tagen seit Ballards Abreise Stück für Stück die Lichter heruntergedreht, ihren Raum und alle anderen Winkel der Station abgedunkelt hat. Lubin hat das Gleiche getan, obwohl sie nie darüber gesprochen haben.
Zum ersten Mal fragt sie sich, was sie da eigentlich tun. Es ergibt keinen Sinn; die Augenkappen passen sich automatisch Veränderungen des Umgebungslichts an und liefern der Netzhaut stets die optimale Lichtintensität. Wozu in Dunkelheit leben, wenn man sie nicht einmal als solche wahrnimmt?
Sie dreht das Licht ein wenig hoch; in der Kabine wird es heller. Grelle Farben vor einem grauen Hintergrund schmerzen ihr in den Augen. Der Hydrox-Tank strahlt in einem floureszierenden Orange; Anzeigen flackern rot, blau und grün; der Griff an der Schottverriegelung ist schreiend gelb. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal Farben wahrgenommen hat; die Augenkappen filtern auch noch die schwächsten Bilder aus der Dunkelheit heraus, doch dabei geht der größte Teil des Spektrums verloren. Jetzt, da das Licht heller ist, treten die Farben wieder deutlich hervor.
Der Anblick gefällt ihr nicht. Hier unten wirkt er grell und unpassend. Clarke setzt ihre Augenkappen wieder ein und dreht das Licht erneut auf die niedrigste Einstellung herunter. Das Schott verblasst zu einer tröstlichen Mischung aus blauen Pastelltönen.
Nun gut. Ich sollte mich ohnehin nicht zu sehr gehen lassen.
In wenigen Tagen, wenn die restlichen Besatzungsmitglieder eintreffen, wird es auf Beebe eng werden. Sie will gar nicht erst in Versuchung geraten, sich vor den anderen eine Blöße zu geben.
Rom
Neotenie
A uf den ersten Blick sah es nicht menschlich aus. Es schien nicht einmal lebendig zu sein. Stattdessen wirkte es eher wie ein Haufen schmutziger Lumpen, den jemand am Fuß des Cambie-Pfeilers auf die Erde geworfen hatte. Gerry Fischer hätte nicht zweimal hingesehen, wenn nicht genau in diesem Moment der Skytrain über ihn hinweggerauscht wäre und den Boden mit zuckenden Lichtstrahlen übersät hätte.
Er sah hinüber. Augen tauchten aus den Schatten auf, erwiderten seinen Blick und verschwanden wieder.
Er setzte sich erst in Bewegung, als der Zug über das Hochgleis verschwunden war. Die Welt versank erneut in trübem Zwielicht. Der Bürgersteig. Der graue Streifen aus Kudzu4 unter dem Gleis, der unter herabrieselndem Zementstaub erstickte. In den Wolken spiegelten sich schwach die Neonlichter und Laserstrahlen des Geschäftsviertels.
Und dieses
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