Abonji, Melinda Nadj
Grenzübergang, und obwohl der
Stern des Fortschritts uns unübersehbar auszeichnet, müssen wir, wie alle
anderen, warten, warten, bis man schwarz ist, und mein Vater kocht vor Wut,
lässt mit einem surrenden Geräusch die Modernität ihren Dienst tun, und das
Glas verzieht sich gehorsam, damit mein Vater seinen Ellbogen aufstützen, in
die heisse Luft hinaus rauchen kann, und gleich verwandelt der gute, gerechte
Gott unseren Mercedes in ein Luftschiff, in zwei, drei Augenblicken werden
wir alle anderen mit unseren weissen Schwingen überflügeln, weil wir die Guten
sind, im richtigen System leben, wir werden nicht nur aus der Reihe tanzen,
sondern von weit oben auf diese gottlosen Kommunisten hinunterspucken,
irgendwann, sagt Vater, die Zeit wird mir Recht geben, und wieder kommt es mir
so vor, als hätte die Sonne hier mehr Platz zum Brennen, interkontinentales
Klima, so nennt sich das, heisse Sommer, eiskalte Winter.
Mutter vergisst, den
Seitengriff loszulassen, während Nomi und ich zum Zeitvertreib Wörter
destillieren, weil wir schon schlau sind, weil wir wissen, dass es besser ist,
Vater zu ignorieren. Tompa - Pat - Pam - Pot - Mot - Ma - Pa - Oma - Opa.
Tompa, der kleine
ungarisch-serbische Grenzübergang, der in ein paar Jahren heillos überlastet
sein wird, weil ab Mai 1992 das Embargo gegen Serbien und Montenegro
verschärft, der internationale Luftverkehr aufgehoben wird und sich deshalb
hier, beim winzigen Durchgang zum schwer erreichbar gewordenen Serbien, Tag
und Nacht drastische Bus- und Pkw-Duelle abspielen werden.
Und hätten wir gewusst, was
für ein Chaos an diesem Grenzübergang acht Jahre später, 1992, herrscht - tompa, das auf Deutsch "stumpf
oder "dumpf heisst —, hätten wir wahrscheinlich nicht mehr weitergespielt,
aber was hätten wir getan, wenn wir gewusst hätten, was hier geschieht?
"Top" haben wir vergessen, ja, antworte ich,
und "Tom" und "Po". Und wir fangen an zu lachen, es beginnt
mit einem leisen Kichern, einem Kichern, das immer lauter werden muss, weil wir
uns gegenseitig anstecken, und das Kichern wird zu einem Glucksen, weil Vater
so ernst in die Luft hinaus raucht, weil die Sonne unerbittlich auf das weisse
Blech brennt, wir von der langen Fahrt übermüdet sind. Wenn ihr nicht sofort
ruhig seid, übergebe ich euch den Kommunisten, jaja, denen da drüben, die so
aussehen, als seien sie aus Stein gehauen, Mutter, die uns mit einem dringenden
Blick bittet, still zu sein.
Und als wir endlich an der Reihe
sind, blicken Nomi und ich mit Kindergesichtern in die strengen Augen des
Grenzpolizisten, wir zeigen ihm, dass wir unschuldig sind, und nicht nur wir,
sondern auch Vater; der aus Stein gehauene Kommunist bringt es fertig, dass wir
ehrerbietig und wieder hellwach sind, er, der gelassen in unseren Pässen
blättert, sich zwischendurch Zeit nimmt, seinen deutschen Schäferhund zu
tätscheln, aber diesmal werden wir nicht so einfach davonkommen, fahren Sie
bitte zur Seite, sagt der Polizist und macht eine minimale Handbewegung, die
zeigt, dass er es ernst meint. Und diesmal werden wir Zeugen davon, dass es
das wirklich gibt, die Untersuchung von Kopf bis Fuss.
Als wir endlich in der
Kleinstadt einfahren, hat sich mein Vater noch nicht beruhigt, Nomi und ich drücken
uns in den Rücksitz, mucksmäuschenstill und kraftlos hören wir den Wortschwall
unseres Vaters, seine Flüche und Verwünschungen, und damals haben wir noch
nicht begriffen, dass es nicht um Breschnew geht, der sich ins stinkende Knie
ticken soll, nicht um die russischen Sportler, die sich mit ausgeklügeltem
Doping Medaille um Medaille stehlen, nicht um die Zwiebeltürme, die ein Ausdruck
von Kulturlosigkeit sind; erst viel später werden Nomi und ich verstehen, dass
es hinter diesem ganzen Hass eine verschwiegene Geschichte gibt, die mitten in
Vaters Herz führt, die Geschichte von Papuci, dem Vater unseres Vaters.
Diesmal werden wir unsere
Schwester kennenlernen, wir gleiten an den Pappeln vorüber, den Akazien- und
Kastanienbäumen, um die Bekanntschaft von Janka zu machen, die zum früheren
Leben unseres Vaters gehört, Janka, unsere Halbschwester, die plötzlich im
Fotoalbum klebte, als hätte sie schon immer dazugehört, wer ist denn das,
fragte Nomi, und Mutter antwortete, das ist die Tochter deines Vaters, und
natürlich dauert es eine gewisse Zeit, bis man begreift, was das heisst, die
Tochter deines Vaters, das Kind aus erster Ehe; Vater hatte schon mal was mit
einer anderen, witzeln Nomi
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