Abonji, Melinda Nadj
Mauro, die hat dich an
der Nase herumgeführt, sagt Herr Berger lachend (und wahrscheinlich würde Herrn
Tognoni, Herrn und Frau Berger und die Schärers das, was ich von meinem Land
erzählen wollte, nicht interessieren, es wäre gut möglich, dass sie mich etwas
verlegen und mitleidig anschauen würden: Fräulein, wir dachten da an etwas
Anderes, wir wollten etwas über die Kultur, die Geschichte, die Sprache, die
Probleme erfahren — und nicht über die Luft zwischen den majestätischen Pappeln
und Akazien, die winzigen Blumen, die zwischen den Pflastersteinen wachsen,
den Staub, den Dreck, über Bela ...). Leider habe ich keine Zeit, um von meinem
... schon gut, Fräulein, wir sehen ja, dass Sie beschäftigt sind, aber bringen
Sie uns doch allen noch einen frisch gepressten Orangensaft, und ich lächle,
drehe mich weg (vielleicht stelle ich Ihnen nächstes Mal eine Frage, denke ich,
über die Glaubenskriege, die Schlacht bei Sempach, die Reisläufer oder die
Teufelssage würde sie, die ich bin, Tisch sechs und sieben befragen, und Frau
Berger würde vor Schreck vergessen, das Milchschäumchen unauffällig vom
Mundwinkel abzulecken, da sie nicht erwartet hat, dass das Fräulein eine Frage
zur Schweizer Geschichte, zur Schweizer Kultur stellen kann; ich komme vom
Balkan und studiere Geschichte, werde ich sagen, Geschichte der Neuzeit und
Schweizer Geschichte; wie billig von mir, dass ich mich beweisen will, bei Menschen,
die mir eigentlich vollkommen gleichgültig wären, wären sie nicht Stammkunden
des Mondial); und ich, deren Aufmerksamkeit sich plötzlich verschiebt, zu den
Schärers hin, merke erst jetzt, dass die beiden Brüder gar nichts erzählen,
sich nicht einmal am Gespräch beteiligen, nur hin und wieder ah ja, sagen, ah
so.
Das wurmt mich jetzt aber,
sagt Herr Tognoni, als ich die Säfte auf den Tisch stelle, ich hätte schwören
können, dass mir jemand erzählt hat, Sie seien aus Russland, und Herr Tognoni
macht sich Sorgen, weil sein Gedächtnis möglicherweise nicht mehr so funktioniert
wie früher, ich war's bestimmt nicht, sagt Herr Pfister und setzt sich neben
die Schärers, wenn ihr etwas über das Fräulein wissen wollt, müsst ihr nur mich
fragen, ich weiss alles über sie, Herr Pfister, der mir charmant zuzwinkert;
und als ich ihm seinen hellen Milchkaffee und seinen Orangensaft auf den Tisch
stelle, diskutieren Herr Pfister, Herr Tognoni und die Bergers schon über die
Vorteile von Tai Ginseng und Ginkgo-Tabletten.
Um halb zwölf sitzen Nomi und
ich am Personaltisch, essen Rindsvoressen mit Kartoffelstock und
Vichy-Karotten, ich halte dieses Gerede nicht mehr aus, sage ich, Nomi, die
mich anschaut, die Sauce mit dem Kartoffelstock vermischt, dieses Geplapper
über Jugoslawien — Nomi, die mich immer noch anschaut, während sie den Mund
öffnet, einen Bissen nimmt, kaut, schluckt, was erwartest du denn, sagt Nomi,
und ich, die aufhört zu essen, zünde mir eine Zigarette an, ich würde sie gern
provozieren, sage ich, wen sie, fragt Nomi und spiesst sich ein Stückchen Fleisch auf
die Gabel, du weisst schon, wen ich meine. Dann tu es doch, und Nomis Gabel
bleibt in der Luft, mit den Spitzen gegen mich gerichtet, so wie die Menschen
etwas kauen wollen, wollen sie etwas plappern, und das ist an und für sich
nichts Schlechtes, und es ist auch nicht für dich bestimmt, Nomi, die die Gabel
auf den Tellerrand legt. Für wen denn sonst?, und ich schaue an Nomi vorbei,
blicke ins Mondial, das jetzt, wie immer um diese Zeit, fast leer ist. Für den
Tag, den langweiligen Morgen, für die Luft, stell dir vor, wie es wäre, wenn
der Luft ständig übel würde. Vielleicht sehen wir es nicht, dass es so ist,
antworte ich.
Ildi, sagt Nomi, niemand kann
etwas dafür, dass unsere Familie in Jugoslawien lebt.
Nicht einmal wir, antworte
ich, drücke meine Zigarette aus, stehe verärgert auf, bringe unsere Teller in
die Küche, und als ich Marlis sehe, wie sie mit ihrem hellen Blick vor sich
hinmurmelt, weiss ich plötzlich, wie harmlos sie ist, die plaudernde
Geschwätzigkeit, gegenüber dem Lauern der Gebrüder Schärer, die ausdauernd und
präzise auf den richtigen Moment warten, um uns, in ihrem Neid, einen
bleibenden Denkzettel zu verpassen.
Mamika und Papuci
Wir haben nur ein paar Tage
Zeit, um unsere Verwandten in der Vojvodina zu besuchen, im Sommer 1988, als
unsere Eltern ihre erste Cafeteria führen, in einer merkwürdigen Hektik setzen
wir uns in Wohnzimmer, die wir seit Jahren
Weitere Kostenlose Bücher