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Abonji, Melinda Nadj

Abonji, Melinda Nadj

Titel: Abonji, Melinda Nadj Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tauben flieggen auf
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wisse gar nicht mehr, wer was erzählt
habe, es vermische sich alles, da meint Vater, wir seien noch bei Grossonkel
Pista eingeladen, er habe es ihm versprochen, dass wir ihn heute noch besuchen,
da rebellieren Nomi und ich, wir können nicht mehr, Mamika, die Vater davon
überzeugen kann, dass er und Mutter Pisti allein besuchen, und am letzten Tag
vor unserer Abfahrt solle der Pisti noch zum Kaffee vorbeikommen, dann könnt
ihr euren Grossonkel wenigstens noch zum Abschied küssen, sagt Mamika lachend.
    Es war an diesem Abend, als
Nomi und ich mit Mamika allein waren, und nachdem wir über den Innenhof gerannt
waren, um Mamika beim Füttern der Tiere zu helfen, sassen wir am Küchenusch,
schauten eine Weile zu, wie der Regen gegen das Fenster schlug, da sagte
Mamika, ich möchte euch etwas über euren Grossvater erzählen, dieser verrückte
Regen sagt mir, dass ich das tun muss. Hat euch euer Vater je etwas über euren
Grossvater erzählt? Wir wissen, so Nomi, dass Papuci im Arbeitslager war und
dass er sich zum 1. Mai ein Kilo Läusepulver gewünscht hat (Vater, der uns vor
ein paar Monaten mit einer rauen, flüsternd eindringlichen Summe, die keinen
Widerspruch duldete, von Grossvater erzählte, als es darum ging, ob wir am 1.
Mai unser Geschäft schliessen oder nicht. Schliessen?, am Tag der Arbeit?, so
unterbrach uns Vater, als Nomi und ich bereits zu einem leisen Protest
angesetzt hatten, hört mal zu, wir werden am Tag der roten Scheisser ein ganz
besonderes Menü auf die Karte setzen, ein schönes, safdges Gulasch oder eine
Schweizer Spezialität, Kalbsgeschnetzeltes mit Rösti, und ich schlage vor, dass
wir unseren Gästen sogar einen Kaffee spendieren — und wisst ihr warum? Ich
werde es euch verraten, euren blöden Köpfen, die jetzt wegschauen, weil sie nur
einen freien Tag wollen. Wir durften eurem Grossvater am 1. Mai ein
zusätzliches Kilo ins Arbeitslager schicken, das monatliche Kilo wurde am 1.
Mai um ein Kilo aufgestockt, und wisst ihr, was wir eurem Grossvater nach
Pozarevac geschickt haben? Nein? Ihr werdet es auch nicht erraten! Läusepulver
haben Mamika, Onkel Móric und ich ihm geschickt, das kräftigste Läusepulver,
das wir auftreiben konnten! Papuci, euer Grossvater, hat sich das gewünscht zum
1. Mai, um seinem blutig gebissenen Schädel Linderung zu verschaffen. Als er
aus dem Arbeitslager zurückkam, erkannten wir ihn nicht wieder. Seine Kopfhaut
war vernarbt, seine schwarzen Locken hatte die Läusegemeinschaft aufgefressen
und nur noch weisses, schütteres Haar übrig gelassen. Meine lieben Töchter,
der 1. Mai wird für mich immer ein Kilo Läusepulver bleiben, ein zusätzliches
Kilo, das die Roten erlaubt haben, an ihrem Feiertag, an dem ich immer arbeiten werde, und ich
werde für Papuci ein Festessen kochen, das sag' ich euch! Aber ihr, wollt ihr
etwa demonstrieren?, eine rote Fahne schwenken?, oder "Breschnew,
Breschnew" rufen?, oder "Stalin?", oder "Lenin?", oder
"es lebe der Kommunismus?", oder wollt ihr etwa "es lebe die
Enteignung" rufen?, gehört ihr etwa zu den Roten oder zu den Grünen?
Möchte bloss wissen, welcher von euren Schweizer Freunden euch in den Kopf
geschissen hat, oder habt ihr euch etwa selber in den Kopf geschissen?),
stimmt, sagte Mamika, das mit dem Läusepulver habe ich vergessen, aber jetzt
erinnere ich mich, ein ganzes Kilo haben wir eurem Papuci geschickt, und Mamika
erhob sich, sagte, wir sollten uns ins andere Zimmer setzen, sie habe in der
Kredenz ein Foto von Papuci, das einzige, und das wolle sie uns später zeigen.
     
    Hört mal zu, so fing Mamika
an, euer Grossvater wurde getötet und mit ihm viele andere. Ich erzähle euch,
was ich darüber weiss, damit ihr in eurem Leben nicht vergesst, dass immer
alles passieren kann, das Grausamste, und es gibt Anzeichen dafür, wenn die Menschen
sich wieder auslöschen wollen — und die Zeichen stehen im Moment sehr schlecht,
meine geliebten Mädchen (und erst später, als wir wieder in der Schweiz waren,
fiel mir auf, dass Mamika in diesem Sommer die einzige war, die davon
gesprochen hatte, dass es wahrscheinlich Krieg geben werde).
    Ihr fragt euch, woher ich das
wissen will? So ein altes, verhutzeltes Weib?
    Ich weiss es nicht, aber ich
habe eine düstere Vorahnung, und Mamika schaute uns mit ihren graublauen Augen
an, machte eine Pause, in der sie mehr als nur ihre Gedanken zu sammeln schien.
    Ich und euer Papuci haben
immer mit den Viechern gelebt, was ja für Bauern ganz normal ist. Aber wisst
ihr,

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