About Ruby
beruhigend, fast tröstlich, die Broschüren hineinzustecken, eine nach der anderen, jede ganz ordentlich und an den richtigen Ort. »Wer weiß, was passiert wäre, wenn du nicht aufgetaucht wärst?«
Was Nate jedoch nicht kommentierte. Und worüber ich wiederum, wie ich zugeben muss, ziemlich erleichtert war. Stattdessen meinte er: »Kann ich dich etwas fragen?«
Ich blickte auf, ihn an. Steckte eine weitere Broschüre in eine weitere Tüte. »Klar.«
»Wie war das? Ich meine, wie hast du dich gefühlt, als du ganz allein gewohnt hast?«
Ich hatte fest damit gerechnet, dass er mir eine Frage wegen gestern stellen würde, zum Beispiel, warum ich mich so danebenbenommen hatte. Oder mich bitten würde, meine verdrehten Theorien zum Thema Freundschaft etwas genauer zu erläutern. Doch diese Frage erwischte mich mehr oder weniger unvorbereitet. Was vermutlich der Grund dafür war, dass ich sie ehrlich beantwortete. »Zuerst war es gar nicht so übel«, sagte ich. »Im Gegenteil, ich empfand es sogar als eine Art Erleichterung. Mit meiner Mutter zusammenzuleben, war nie einfach, vor allem gegen Ende nicht.«
Er nickte, ließ den leeren Karton auf den Boden fallen und holte einen weiteren hervor, der bis zum Rand mit Magneten mit dem
QUEEN-HOMES -Logo
gefüllt war. Er hielt ihn mir hin, ich nahm ein paar und begann, je einen in die Tüten, die in Reih und Glied auf meiner Seite des Tischs standen, zu stecken. »Aber auf Dauer wurde es immer schwieriger«, erzählte ich weiter. »Ich hatte Mühe, die Rechnungen zu bezahlen, immer wieder wurde der Strom abgestellt . . .« Ich hielt inne, war mir nicht sicher, ob ich fortfahren sollte. Doch als ich aufblickte, merkte ich, dass er mich aufmerksam ansah, deshalb fuhr ich fort: »Ich weiß auch nicht. Ich glaube, ich hatte die Situation unterschätzt.«
»Das gilt für vieles«, meinte er.
Ich erwiderte seinen Blick. »Ja.« Schaute zu, wie er Magneten in Tüten fallen ließ. Ein Magnet nach dem anderen, eine Tüte nach der anderen. »Stimmt.«
»Nate!«, rief jemand von draußen. Über Nates Schulterhinweg konnte ich seinen Vater sehen, der in der Terrassentür stand, Telefonhörer am Ohr. »Bist du endlich mit diesen Tüten fertig?«
»Ja«, rief Nate, ohne sich umzudrehen, und bückte sich nach einem weiteren Karton. »Gleich.«
»Die Kundin braucht sie
jetzt
!«, sagte Mr Cross. »Wir haben sie ihr für zehn Uhr versprochen. Auf geht’s, aber dalli!«
Nate holte diverse, einzeln verpackte Weihnachtskerzen in allen erdenklichen Farben aus dem Karton und fing an, sie in Lichtgeschwindigkeit auf die Tüten zu verteilen. Ich schnappte mir ebenfalls eine Handvoll und tat es ihm gleich. »Danke«, meinte er, während unsere Hände mit den Kerzen über die Tütenreihen huschten. »Wir stehen hier ein bisschen unter Zeitdruck.«
»Kein Problem«, antwortete ich. »Außerdem schulde ich dir sowieso was.«
»Ach was«, erwiderte er.
»Aber hallo. Du hast mich gestern gerettet. In jeder Beziehung.«
»Na gut.« Er ließ die letzte Kerze in die letzte kerzenlose Tüte fallen. »Dann zahlst du’s mir eben irgendwann zurück.«
»Wie?«
»Irgendwie.« Er warf mir einen Blick zu. »Wir haben jede Menge Zeit, oder etwa nicht?«
»Nate!«, brüllte Mr Cross. Und man konnte seinem Ton deutlich anhören, dass ›jede Menge Zeit‹
nicht
auf die Realität zutraf (zumindest nicht auf den jetzigen Moment). »Was zum Teufel trödelst du da draußen rum?«
»Ich komme!« Nate fing an, die Tüten in zwei leere Kartons zu stellen. Ich wollte helfen, doch er schüttelte denKopf. »Schon okay, ab jetzt schaffe ich es allein. Trotzdem danke.«
»Bist du sicher?«
»NATE!«
Er nickte. Ich trat ein wenig vom Tisch zurück, um ihm nicht im Weg zu sein. In der Sekunde schubste er auch schon die letzte Tüte in den einen Karton, stellte ihn auf den anderen, ebenfalls mit Tüten gefüllten, eilte mit beiden zur Tür. Ich folgte ihm nach draußen. »Endlich«, ertönte es von Mr Cross, als wir aus dem Gartenhaus traten. »Ich meine, wie kompliziert kann es sein, ein paar –« Er brach ab, als er mich bemerkte. »Ach so.« Seine Stimme, sein Gesicht: Alles wurde schlagartig etwas weicher. »Mir war nicht klar, dass du Gesellschaft hast.«
»Das ist Ruby«, meinte Nate und brachte seinem Vater die Kartons.
»Natürlich, wir kennen uns.« Mr Cross lächelte mich an. Ich versuchte, sein Lächeln zu erwidern, obwohl mir auf einmal unbehaglich zumute wurde. Denn ich musste
Weitere Kostenlose Bücher