About Ruby
erneut über die Augen. Und dieses Mal sagte Jamie nichts.
»Unfair.« Ich vollendete den Satz für sie. »Das Allerletzte!«
»Ja.« Sie blickte zu mir hoch. »Das
Allerallerletzte
!«
Ich kam mir völlig hilflos vor, wie jedes Mal, wenn Cora wegen dieser Kinderkrieggeschichte halb durchdrehte. Es war das Einzige, was sie innerhalb von weniger als fünf Minuten total fertigmachte, von null auf hysterisch brachte. Die einzige verwundbare Stelle in ihrer ansonsten ziemlich stabilen emotionalen Rüstung. Sie versuchte seit einiger Zeit mit etwas pharmazeutisch-technischer Hilfe (sprich: Hormone zur Anregung der Eierstockproduktion) nachzuhelfen. Die Nebenwirkung des Medikaments bestand darin, dass ihr heiß wurde und sie sich über jede Kleinigkeit aufregte. Also – und zwar konnte es jederzeit losgehen – schwitzte sie oder heulte oder beides gleichzeitig. Keine gute Kombi,vor allem nicht während der Feiertage.
Und
es war auch noch vollkommen umsonst gewesen. Wirklich, das Allerletzte!
»Wir versuchen es einfach weiter«, sagte Jamie. »Vielleicht haben wir ja noch irgendwann Glück.«
Cora nickte, wirkte aber, wie ich deutlich spürte, nicht sonderlich überzeugt. Sie hob die Hand, befühlte mein Weihnachtsgeschenk für sie: eine von Harriets Ketten mit einem silbernen, von roten Steinen umrahmten Schlüsselanhänger. Als sie die kleine Schachtel ausgepackt hatte, war ich komischerweise auf einmal ziemlich nervös geworden. Ob er ihr wohl gefallen würde? Aber in dem Moment, als sie ihn herausholte, in ihre Hand gleiten ließ und mit großen Augen anschaute, wusste ich: Volltreffer! »Wunderschön!«, meinte sie. Sah mich an. »Und wie deiner!«
»Einerseits schon«, antwortete ich. »Aber dann auch wieder nicht.«
»So ein schönes Schmuckstück!« Cora legte sich die Kette sofort um den Hals, strich die Haare von ihren Schultern weg. »Was meint ihr? Steht mir das?«
Ja, die Kette stand ihr sehr gut. Das fiel mir auch jetzt wieder auf. Sie hatte ihren Kopf an Jamies Schulter gelegt, kuschelte sich an ihn, doch mit einer Hand hielt sie noch immer den Schlüssel fest. An ihr sah er anders aus als an mir, doch die Ähnlichkeit war trotzdem unverkennbar. Man musste nur wissen, wie und wo man danach zu suchen hatte.
Es klingelte an der Haustür. Roscoe, der am Fußende des Bettes vor sich hin gedöst hatte, stellte die Ohren auf und gab einen kurzes Kläffen von sich. »Ist da jemand an der Tür?«, fragte Jamie.
»Scheint so«, erwiderte Cora. Roscoe hüpfte vom Bett,schoss aus dem Zimmer. Sekunden später hörten wir sein Bellen unten aus der Eingangshalle. Es klingelte erneut. »Wer kommt denn um diese Zeit vorbei? Am Weihnachtsmorgen?«
»Ich schaue mal nach.« Obwohl ich die stille Hoffnung hegte, dass ich es bereits wusste. Ich stand rasch auf, lief die Treppe hinunter. Auf halbem Weg klingelte es zum dritten Mal. Und dann tatsächlich noch einmal, als ich die Haustür schon fast erreicht hatte. Doch als ich davorstand und durch den Türspion hinausspähte, erblickte ich – nicht Nate. Und auch sonst niemanden. Häh? Denn schon wieder klingelte es. Also machte ich eben auf, ohne zu wissen, um wen es sich bei dem hartnäckigen Klingler handelte.
Gervais! Er reichte nicht bis zum Spion, deshalb hatte ich ihn nicht sehen können. Aber er stand definitiv auf der Türschwelle, mitsamt Brille, Schal, Matrosenmantel – alles da. Und im Hintergrund, auf unserer Auffahrt, parkte ein offenbar funkelnagelneuer Roller. »Hi«, sagte er.
Ich sah ihn verdutzt an. Schaffte es schließlich, ebenfalls ein »Hi« hervorzubringen. Gefolgt von einem: »Was tust –?«
Gervais unterbrach mich: »Ich möchte dir einen Vorschlag machen.« Er hörte sich sehr geschäftsmäßig an. »Darf ich reinkommen?«
»Äh«, antwortete ich. Roscoe hatte aufgehört zu bellen, versuchte allerdings eifrig, sich an mir vorbeizuzwängen. »Wir sind gerade ziemlich beschäftigt, deshalb –«
Wieder fiel er mir ins Wort: »Verstehe.« Er rückte seine Brille zurecht. »Dauert auch nicht lang.«
Ich wollte ihn eigentlich nicht reinlassen. Aber schließlich war Weihnachten (das Fest der Nächstenliebe), deshalb trat ich einen Schritt zur Seite. »Warum bist du nicht zuHause? Bei deiner Familie?«, fragte ich. Er schloss die Tür hinter sich.
»Wir sind bereits seit Stunden mit Weihnachten fertig«, antwortete er. »Mein Vater hat den Baum schon wieder abgebaut.«
»Oh.« Mehr fiel mir dazu nicht ein.
Da standen
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