About Ruby
ab. Ich holte tief Luft, sehr tief, so tief ich konnte, und ließ zu, dass er mich mit sich zog.
***
Dass Jamie auf Feiertage stand, wusste ich ja schon. Man denke an die blauen Hemden im Partnerlook, ganz zu schweigen von den Dankbarkeitslisten. Doch obwohl ichBescheid wusste und bis zu einem gewissen Punkt gewappnet war – auf so viel geballten Weihnachtsenthusiasmus war ich dennoch nicht vorbereitet.
»Halt bitte endlich still.« Cora schnitt eine komisch entnervte Grimasse, während sie das Kissen weiter unter seine Jacke stopfte. »Hör auf zu zappeln.«
»Kann ich nicht«, erwiderte Jamie. »Die langen Unterhosen kratzen mehr, als ich dachte.«
»Ich habe dir gesagt, zieh Boxershorts an.«
»Der Weihnachtsmann trägt keine Boxershorts!« Und weil Cora dabei den breiten schwarzen Gürtel um seine rote Jacke ruckartig fester zog, damit das Kissen an seinem Platz blieb, kletterte Jamies Stimme beim Sprechen unwillkürlich eine halbe Oktave höher. »Wenn ich das schon mache, soll es auch möglichst authentisch sein.«
»Ich bezweifle, dass die Weihnachtsmannpolizei Unterwäschekontrollen durchführt.« Cora, die vor ihm gehockt hatte, rappelte sich hoch. »Wo ist dein Bart?«
»Auf dem Bett«, antwortete er. Bemerkte mich und meinte: »Hey Ruby! Was denkst du? Sieht doch klasse aus, oder?«
Ehrlich gesagt, war das vermutlich nicht das erste Wort, das einem angesichts von Jamie in voller Weihnachtsmannmontur einfiel: unförmiger roter Anzug, klobige schwarze Stiefel, voluminöse weiße Perücke, die meiner bescheidenen Meinung nach kratziger wirkte, als es jede Form von Unterwäsche je hätte sein können. Doch zugunsten des familiären Zusammenhalts beschloss ich, jetzt nicht auf Spielverderber zu machen.
»Ja«, stimmte ich daher zu. Cora hob die Arme, befestigte den Bart hinter Jamies Kopf. »Geht ihr auf eine Party oder so etwas?«
»Nein«, antwortete er. Cora trat, Hände in die Hüften gestemmt, einen Schritt zurück und musterte das Ergebnis ihrer Bemühungen. »Heute ist Heiligabend.«
»Richtig«, sagte ich gedehnt. »Und die Verkleidung ist . . .«
». . . dazu gedacht, eine kleine Runde durch die Nachbarschaft zu drehen.« Er vollendete den Satz für mich. Ich wechselte einen Blick mit Cora, die jedoch bloß stumm den Kopf schüttelte. »Mein Vater hat sich an Heiligabend immer als Weihnachtsmann verkleidet«, fuhr Jamie fort. »Ist ’ne Familientradition.«
»Von denen
wir
nicht besonders viele haben«, ergänzte Cora. »Was Jamie weiß und es deshalb zu seiner Herzensangelegenheit erklärt hat, das zu ändern.«
Jamie schaute von ihr zu mir und wieder zurück. Sogar in diesem Kostüm, mit Perücke und allem, sah er aus wie ein kleiner Junge, nach dem Motto:
Weihnachtsmanns Kindheit
. »Schon klar, ist vielleicht ein bisschen übertrieben«, meinte er. »Es ist nur . . . Also, Weihnachten war bei uns daheim ein Großereignis. Hat wohl ein wenig auf mich abgefärbt.«
Was eine schlichte Untertreibung war, selbst wenn man das Weihnachtsmann-Outfit, an dem wirklich kein Detail fehlte, mal außer Acht ließ. Schon vor Wochen hatte Jamie sich kopfüber in die Weihnachtsvorbereitungen gestürzt, hatte unter anderem: vor dem und ums Haus herum eine aufwendige Weihnachtsbeleuchtung installiert; in praktisch jedem Zimmer Adventskalender aufgehängt; den größten Baum angeschleppt, den er auftreiben konnte und den wir dann alle zusammen mit einer Mischung aus funkelnagelneuem Weihnachtsschmuck und selbst gebastelten Stücken aus dem Hunter’schen Familienbesitz dekoriert hatten. Ehrlich gesagt, hätte Weihnachten von mir aus gern auch schonvorbei sein können, da ich sowohl daheim als auch im Einkaufszentrum, bei der Arbeit, damit geradezu bombardiert wurde. Aber wie bei eigentlich fast allem, was Jamie anzettelte, hatte ich brav mitgemacht: ließ mich zu Nachbarn mitschleifen, wo unter großem Tamtam die Lichter am Baum das erste Mal angezündet wurden; schaute mir ungefähr hundert Mal das Charlie-Brown-Weihnachtsspecial auf DVD mit an; ich hielt sogar Roscoe fest, während Jamie ihm ein kunstvolles Geschirr aus Weihnachtsglöckchen anlegte.
»Hier«, sagte er, nahm einen roten Weihnachtselfenhut vom Bett. »Für dich.«
»Für mich?«
»Ja. Damit wir zueinanderpassen, wenn wir losziehen.«
Erneut schaute ich zu Cora hinüber, doch dieses Mal wich sie meinem Blick geflissentlich aus, indem sie geschäftig ihr Wangenrouge wegräumte, mit dem sie Jamie festliche Röte verliehen hatte.
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