About Ruby
heute anscheinend nicht für nötig gehalten, mit Roscoe Gassi zu gehen.«
»Ehrlich?«, sagte ich. »Ganz sicher? Auf Nate kann man sich doch eigentlich verlassen.«
»Heute nicht«, antwortete sie. »So viel steht fest.«
Es war seltsam. So seltsam, dass ich mich zu fragen begann, ob Nate möglicherweise abgehauen war oder so etwas. Denn es schien die einzig plausible Erklärung dafür zu sein, dass er etwas verdaddelte, das er sonst pünktlich und gewissenhaft erledigte. Doch das Licht in seinem Zimmer ging an, wie jeden Abend. Und die Poolbeleuchtung ebenfalls. Erst als ich gegen Mitternacht zufällig noch einmal ausdem Fenster blickte und dann genauer hinschaute, bemerkte ich etwas Ungewöhnliches: Jemand pflügte durchs Wasser. Hin, her, her, hin, mit langen, kräftigen, regelmäßigen Schwimmzügen. Dunkel hob sich die Gestalt vor dem bläulichen Licht ab. Ich beobachtete ihn ziemlich lang. Doch als ich schließlich mein eigenes Licht ausmachte, schwamm er immer noch.
Kapitel siebzehn
An diesem Wochenende hätte ich mich ausschließlich auf eins konzentrieren sollen: Differenzialrechnung. Denn am kommenden Montag war die Prüfung, die über meinen Zensurendurchschnitt und damit über meine gesamte Zukunft mit entscheiden würde. Laut Gervais – dessen Methode sich noch bei jedem bewährt hatte – war es an der Zeit, sich in den Zen-Modus zu begeben. So nannte er das jedenfalls.
»Bitte was?«, hatte ich am Tag zuvor – am Freitag – gesagt, als er das verkündete.
»Gehört zu meiner Technik«, erwiderte er. Nahm einen Schluck von seinem Kakao (sein Bedarf pro Mittagspause: zwei Tetrapacks). »Erst sind wir alles durchgegangen, was du dieses Schuljahr hättest lernen müssen. Haben uns anschließend auf deine Schwachstellen konzentriert, sie identifiziert und versucht auszumerzen. Aber jetzt ist Zeit für den Zen-Modus.«
»Und das heißt?«, erkundigte ich mich.
»Dir eingestehen, dass du dein Schicksal nicht in der Hand hast, weder bei dieser Prüfung noch überhaupt. Du musst alles über Bord werfen, was du gelernt hast.«
Ich starrte ihn perplex an. Olivia, die gerade per Handy ihr UMe-Account checkte, meinte: »Wie in den großenasiatischen Filmen. Nachdem der Krieger alles gelernt hat, was es technisch zu lernen gibt, muss er sich angesichts der größten Herausforderung ausschließlich auf seinen Instinkt verlassen.«
»Warum büffele ich seit Wochen wie eine Irre, wenn ich jetzt plötzlich alles vergessen soll?«, fragte ich. »So etwas Dämliches habe ich noch nie gehört.«
Olivia zuckte die Schultern. »Aber der Mann sagt, seine Methode habe sich noch bei jedem bewährt.«
Der Mann?!
, dachte ich.
»Es geht nicht darum, alles zu vergessen«, sagte Gervais. »Trotzdem solltest du das, was zu lernen war, inzwischen so weit verinnerlicht haben, dass du nicht mehr
bewusst
überlegen musst. Du siehst ein Problem – du kennst die Lösung. Auf einen Blick. Rein intuitiv.«
Ich schaute auf das Übungsblatt, welches er für mich vorbereitet hatte. Fein säuberlich war dort ein mathematisches Problem nach dem anderen notiert. Was wie üblich dazu führte, dass mir – auf einen Blick – schwindelig wurde. Mein Herz rutschte gen Magengrube, mein Gehirn franste an den Rändern aus. Falls das meine Intuition war, die zu mir sprach, wollte ich lieber gar nicht erst wissen, was sie mir zu sagen hatte.
»Zen-Modus«, wiederholte Gervais. »Mach deinen Kopf frei, akzeptier die Ungewissheit, und die Lösungen werden auftauchen. Vertrau mir.«
Doch meine Zweifel blieben bestehen. Wurden sogar noch stärker, als er mich weiter belehrte, wie ich an dem letzten Wochenende vor der entscheidenden Prüfung lernen sollte. (Seine Anweisungen waren übrigens in mehrere Paragrafen unterteilt, durchnummeriert und mit Überschriften, Zwischenüberschriften, Unter-Überschriften versehen.Der Knirps war absoluter Profi.) Am Samstagmorgen sollte ich also noch einmal alles durchgehen, am Samstagnachmittag eine Reihe mathematischer Probleme lösen, die er extra so zusammengestellt hatte, dass sie meine Schwachpunkte abdeckten. Für den Sonntag, den Tag vor der Prüfung, wurde mir verboten zu lernen. Was meiner bescheidenen Meinung nach der helle Wahnsinn war. Andererseits – wenn das Ziel tatsächlich darin bestand, bis Montagmorgen alles zu vergessen, war das vermutlich der direkteste Weg dorthin.
Am nächsten Morgen setzte ich mich schon sehr früh hin und fing an, mir noch einmal
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