About Ruby
»Tut mir leid, das Rennen ist vorbei«, meinte sie.
Olivia achtete gar nicht darauf, sondern trat einen Schritt vor und formte mit den Händen einen Trichter vor ihrem Mund. »Laney!«, brüllte sie. »Du hast es fast geschafft! Jetzt bloß nicht aufgeben!«
Ihre Stimme war heiser, angestrengt, angespannt. Ich dachte an den Samstagmorgen zurück, als ich sie ungefähr an der gleichen Stelle mit der Stoppuhr im Schoß getroffen hatte. Und wie sie seitdem wegen dieses Rennens ständigrumgemeckert hatte. Olivia war alles Mögliche. Aber keine gutmütige Idiotin. (Hatte ich es nicht schon geahnt?)
»Los, mach schon!«, schrie sie. Fing an, in die Hände zu klatschen. Laut, rhythmisch. Ihr Klatschen knallte scharf in der Stille, die inzwischen entstanden war. »Auf geht’s, Laney!« Ihre Stimme schwebte über unseren Köpfen. »Mach schon, lauf weiter!«
Sie erntete jede Menge neugieriger Blicke, während sie mitten auf der Straße auf und ab hüpfte, Laney lautstark anfeuerte und ihr Klatschen von den Mauern der Gebäude um uns her widerhallte. Ich betrachtete sie. Dachte an Harriets misstrauischen Gesichtsausdruck, während Reggie immer mehr Vitamine in ihre Tüte schaufelte; an Nate und mich am Abend des Valentinstags auf der Bank am Teich.
Und falls nicht?
, hatte er gefragt. In dem Moment hatte ich geglaubt, es könnte nur eine einzige Antwort geben. Fragte mich jedoch allmählich, ob es tatsächlich nur diese zwei Extreme gab: sich endgültig abwenden oder kopfüber in etwas hineinstürzen. Wenn es wirklich darauf ankommt, reicht es vielleicht, einfach bloß da zu sein. Ist das möglicherweise sogar mehr als genug. Offenbar tendierte Laney zu dieser Ansicht. Denn sie setzte sich wieder in Bewegung.
Ein paar Minuten später lief sie endlich über die Ziellinie. Schwer zu sagen, ob ihr überhaupt auffiel, dass kaum noch Zuschauer da waren, dass die Uhr abgeschaltet war und der Ansager nicht einmal mehr ihre Zeit durchs Mikrofon rief. Aber was ich sehen konnte, war Folgendes: Die Erste, der sie sich zuwandte, war Olivia. Unter dem flatternden Banner schlang sie die Arme um ihre Cousine, drückte sie fest an sich. Und mir schoss derweil – nicht zum ersten Mal – eine Erkenntnis durch den Kopf: Wir können nicht erwarten,dass immer alle für uns da sind. Umso besser, dass man pro Situation eigentlich nur
einen
Menschen braucht, der einem den Rücken stärkt.
***
Als ich wieder daheim war, stürzte ich mich, wild entschlossen zu lernen, sofort auf meine Mathe-Unterlagen. Doch bereits nach kurzer Zeit spazierten meine Gedanken an den Zahlen und Formeln vorbei zu einem ganz anderen Thema; parallel dazu wanderte mein Blick durch den Raum zu dem Foto von Jamies Familie, das nach wie vor an der Wand über meinem Schreibtisch hing. Es war merkwürdig: Ich hatte es mir schon tausendmal angeschaut, an derselben Stelle, auf dieselbe Weise. Doch auf einmal ergab alles einen Sinn, und zwar alles auf einmal.
Was bedeutet Familie
? Das sind die Menschen, die Anspruch auf einen erheben. Zu denen man unauflöslich gehört.
Und
die einen fordern. In guten wie in schlechten Zeiten, im positiven wie im negativen Sinn, teilweise oder vollständig. Familie – das sind die Menschen, die sich nicht drücken, sondern da sind und bleiben, egal was geschieht. Dabei ging es nicht nur um Blutsverwandtschaft oder gemeinsame Chromosomen, sondern um etwas viel Größeres, Umfassenderes. Cora hatte recht: Im Laufe eines Lebens haben wir mehrere Familien. Unsere Ursprungsfamilie, unsere eigene Familie, die wir später gründen, die wechselnden Gruppierungen, denen wir zwischendurch angehören: Freunde, Geliebte, manchmal sogar Fremde. Keines dieser Gebilde war perfekt. Und das durften wir auch gar nicht erwarten. Niemand auf der Welt konnte einem alles sein. Alles andere ersetzen. Der Trick bestand darin, anzunehmen, was jeder einzelne Mensch einem jeweils geben konnte.Und auf diesem Fundament sein eigenes Leben aufzubauen.
Deshalb bestand meine eigentliche Familie nicht nur aus meiner verschollenen und wieder aufgetauchten Mutter, meinem Vater, der von Anfang an durch Abwesenheit geglänzt hatte, sowie Cora, die eigentlich immer für mich da gewesen war. Auch Jamie gehörte dazu – Jamie, der mich bei sich aufgenommen hatte und durch den sich mir eine Zukunft eröffnete, die ich mir früher nicht einmal hätte vorstellen können. Olivia, die vieles infrage stellte, aber ebenso viele Antworten gab. Harriet, die –
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