About Ruby
beschränktem geistigen Horizont und noch geringerem IQ« zuzuordnen und entsprechend sofort zu verwerfen. Dass wir bereits zum zweiten Mal aufeinandertrafen, setzte meine Hemmschwelle etwas herab.
»Komm, lass es mich wiedergutmachen.« Er deutete mit dem Kinn auf den Stundenplan, den ich in der Hand hielt. »Brauchst du eine Wegbeschreibung? Oder kann ich dir sonst irgendwie helfen?«
»Nö.« Ich zog meinen Rucksack höher und damit dichter an meinen Körper.
Eigentlich hatte ich fest damit gerechnet, dass ihn meine knappe Antwort verblüffen würde; schließlich handelte er sich vermutlich so gut wie nie eine Abfuhr ein, egal auf welchem Gebiet. Doch er zuckte lediglich die Schultern. »Okay«, meinte er. »Dann bis irgendwann. Oder spätestens bis morgen früh.«
Zwei Mädchen, die sich die Kopfhörer für einen iPod teilten, liefen kichernd an uns vorbei.
»Wieso morgen früh?«
Nate hob, nun doch leicht erstaunt, die Augenbrauen. »Unsere Fahrgemeinschaft«, antwortete er mit einer Selbstverständlichkeit, als müsste ich genau wissen, wovon er redete. »Jamie meinte, du brauchst eine Mitfahrgelegenheit.«
»Mit dir?«
Er trat einen Schritt zurück, legte eine Hand aufs Herz. »Vorsicht«, meinte er mit todernstem Gesicht. »Sonst tust du mir noch weh.«
Wieder sah ich ihn bloß an. Sagte dann allerdings: »Brauche ich nicht.«
»Jamie findet, dass doch.«
»Nein.«
»Wie du möchtest.« Erneutes Achselzucken. Mr Ultracool. »Ich fahre gegen halb acht an eurem Haus vorbei. Wenn du nicht rauskommst, düse ich weiter. Kein Thema, okey dokey?«
Okey dokey
, dachte ich.
Wer redet denn so
? Er schenkte mir noch einmal sein reizendstes Filmstarlächeln, bevor er sich abwandte, die Hände in die Hosentaschen steckte und, die Lässigkeit in Person, zu seiner gepflegten, gestriegelten Freundesschar zurückschlenderte.
Als es am Ende der Pause zum ersten Mal klingelte, machte ich mich auf den Weg zum Gebäude C. Zumindest hoffte ich, es wäre der richtige Weg.
Trau den Eingeborenen nicht
, hatte Olivia zu mir gesagt, aber ich war sogar schon einen Schritt weiter: Ich traute niemandem. Wollte weder Ratschläge noch Mitfahrgelegenheiten noch Wegbeschreibungen. Klar war es ätzend, wenn man sich verlief. Aber mir war schon vor Langem klar geworden, dass mir dieses Gefühl immer noch lieber war, als von jemand anderem abhängig zu sein, um meinen Weg zu finden. Genau das war das Besondeream Alleinsein, egal ob theoretisch oder praktisch: Was auch immer geschah – gut, schlecht, irgendwo dazwischen –, geschah einem selbst. Und damit gehörte es einem. Ganz allein. Wenigstens das.
***
Nach der Schule sollte ich eigentlich mit dem Bus heimfahren. Tat ich aber nicht, sondern ging, nachdem ich durch die imposanten Steintore der Perkins Day Highschool getreten war, knapp einen Kilometer die Straße entlang zur Tanke, wo ich mir eine Cola kaufte und mich damit in die Telefonzelle verzog. Ich warf einige Münzen in den Schlitz und hielt den klebrigen, versifften Hörer ein wenig auf Abstand, während ich die Nummer wählte, die ich in- und auswendig kannte.
»Hallo?«
»Ich bin’s«, sagte ich. Und fügte, wie in einer Art Nachklapp, hinzu: »Ruby.«
Marshall atmete einmal tief ein und wieder aus. »Ah«, meinte er schließlich. »Womit das Rätsel gelöst wäre.«
»Ich war ein Rätsel?«
»Jedenfalls warst du irgendwas«, erwiderte er. »Alles okay bei dir?«
Womit ich genauso wenig gerechnet hatte wie mit dem Kloß im Hals, der prompt entstand, als ich die Frage hörte. Ich schluckte, bevor ich antwortete: »Ja. Mir geht’s gut.«
Marshall war achtzehn und letztes Jahr mit der Schule fertig geworden. Doch obwohl wir vorübergehend gleichzeitig auf die Jackson High gegangen waren, hatten wir uns erst kennengelernt, als er bei Rogerson einzog, dem Kerl, bei dem alle meine Freunde ihr Gras kauften. Anfangs hatte ich Marshall kaum wahrgenommen; er war eben der Lange,Dünne, der mit Rogerson zusammenwohnte und zufällig durchs Zimmer huschte oder in der Küche hockte, wenn wir reinkamen, um uns die kleinen, verschließbaren Plastiktüten zu holen, in die das Zeug verpackt wurde. Ich hatte nie ein Wort mit ihm gewechselt, bis ich eines Tages dort aufschlug, als Rogerson gerade nicht und außer Marshall auch sonst niemand da war.
Rogerson redete nicht viel, bei ihm ging es immer bloß um den Deal. Man klingelte, ging rein, bekam, was man wollte, und verließ das Haus wieder. Bei Marshall hätte ich
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