About Ruby
rhetorische Frage.
»Trau den Eingeborenen nicht«, meinte Olivia. Lächelte, als wäre das ein Witz gewesen – oder vielleicht auch nicht –, und beendete unser Gespräch unmissverständlich, indem sie ein neues begann, das heißt, sie wandte sich zum Gehenund sprach endlich in den Hörer: »Laney. Hi. Was geht ab? Hab gerade Pause . . . Ja, echt. Schließlich kann ich nicht rumsitzen und warten, bist du
mich
anrufst . . .«
Ich schulterte meinen Rucksack und folgte ihr hinaus in den Flur, auf dem mittlerweile zwar munterer Betrieb herrschte, aber auf keinen Fall der Krach und das Gedränge, das ich von der Jackson her gewohnt war. Niemand schubste oder rempelte mich an, weder absichtlich noch aus Versehen, und wenn irgendwer meinen Hintern betatscht hätte, wäre es ein Leichtes gewesen, den Idioten zu identifizieren. Laut meinem Stundenplan hatte ich als Nächstes Spanische Konversation in Gebäude C. Da heute der einzige Tag war, an dem ich mit Recht würde behaupten können, von nichts eine Ahnung zu haben, war es sicher kein Problem, wenn ich mich nicht beeilte. Deshalb schlenderte ich ziemlich entspannt hinter den anderen her Richtung Ausgang.
Gleich jenseits der großen Tür, am Rand des Schulhofs, stand eine gigantische, u-förmige Skulptur aus einer Art Chrom, in dem sich das Sonnenlicht funkelnd spiegelte, wodurch alles in der Nähe doppelt hell wurde. Deshalb war es zunächst schwierig, die Gruppe Leute zu erkennen, die sich – einige sitzend, andere stehend – darum herum versammelt hatten. Und deshalb wiederum hatte ich im ersten Moment, als ich meinen Namen hörte, keine Ahnung, aus welcher Richtung nach mir gerufen wurde.
»Ruby!«
Ich blieb stehen, blickte mich suchend um. Nachdem meine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, konnte ich die Leute bei der Skulptur deutlicher sehen und auch sofort als genau die Kategorie Mitschüler identifizieren, die an der Jackson immer bei der niedrigen Mauer vor demHauptgebäude abgehangen hatten: die Angesagten, Hippen, die Ersten in der Nahrungskette, die Clique, zu der man nicht einfach gehörte, sondern der man sich nur auf ausdrückliche Einladung hin nähern durfte. Auf jeden Fall nicht die Art von Leuten, mit denen ich normalerweise zu tun hatte. Und obwohl es einerseits ganz schön krass war, dass der einzige Mensch, den ich an dieser Schule kannte, ausgerechnet in diese Kategorie fiel, überraschte es mich andererseits nicht sonderlich.
Nate stand am Rand der Rasenfläche; als er mitkriegte, dass ich ihn bemerkt hatte, hob er grüßend und lächelnd die Hand und fragte, während ein kleiner Typ mit Baseballmütze zwischen uns vorbeiflitzte: »Na, hast du mittlerweile noch ein paar Fluchtversuche hinter dir?«
Ich blickte erst ihn an und dann zu seinen Freundinnen und Freunden – darunter natürlich die Blonde mit dem
Jump-Java
-Pappbecher aus meinem Englischkurs – hinüber, die ein paar Meter hinter ihm angeregt miteinander schwatzten.
Ha-ha
, dachte ich. Noch vor wenigen Augenblicken war ich unsichtbar gewesen, beziehungsweise so unsichtbar, wie man als die einsame Neue an einer Schule sein kann, wo alle anderen sich vermutlich von Geburt an kennen. Doch jetzt wurde mir auf einmal bewusst, dass die anderen mich anstarrten. Und zwar nicht nur Nates versammelte Freunde. Nein, sogar Leute, die zufällig gerade vorbeikamen, warfen mir Blicke zu. Wie oft und wem alles er die Geschichte wohl schon erzählt hatte? Oder noch erzählen würde, bevor der Tag vorbei war?
»Sehr witzig«, erwiderte ich und wandte mich ab.
»Das war doch bloß ein blöder Spruch«, rief er mir nach. Was ich ignorierte. Einfach weiterlief. Doch im nächsten Moment hatte er bereits zu mir aufgeschlossen, verstelltemir den Weg. »Hey«, meinte er beschwichtigend. »Tut mir leid. Ich habe bloß . . . das war nur so dahingefrotzelt.«
Ich schwieg. Sah ihn an. Bei Tag sah er noch mehr nach athletischem Saubermann aus als letzte Nacht – Jeans, zugeknöpftes Hemd überm T-Shirt , Kordel um den Hals, dicke Flip-Flops an den Füßen, obwohl die Badesaison eindeutig vorbei war. Seine Haare hatten jenen weißblonden Farbton, den man bekommt, wenn man den ganzen Sommer in der Sonne verbringt. Seine Augen: strahlend blau.
Zu perfekt
, dachte ich. Wobei ich ehrlicherweise zugeben muss, dass es mir – wäre das unsere erste Begegnung gewesen – vermutlich fast ein wenig leidgetan hätte, ihn der Gattung »gut aussehender Angeber mit
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