About Ruby
ganz selbstverständlich vorkam. So lief es eben zwischen Marshall und mir, so musste es sein. Jetzt allerdings gab ich mehr von mir preis, als ich vorgehabt hatte. Und warum? Wahrscheinlich, weil es mich selbst erstaunte,wie sehr ich mich darüber freute, seine Stimme zu hören – etwas Vertrautes nach all den unerwarteten Ereignissen der letzten Tage.
»Ich musste mich um ein paar Familienangelegenheiten kümmern.« Ich lehnte mich an die Wand der Telefonzelle. »Bin zu meiner Schwester gezogen und –«
Er unterbrach mich: »Moment mal, okay?« Legte die Hand auf den Hörer, sodass seine nächsten Worte, die er an irgendwen in seiner Nähe richtete, abgedämpft wurden und ich sie nicht verstehen konnte. Dann hob er die Hand offenbar wieder, denn als Nächstes hörte ich, wie er sich räusperte. »Sorry, was hast du gerade gesagt?«
Und schon war es wieder vorbei. Sogar das Gefühl, ihn zu vermissen, dauerte nicht lang an. War flüchtig. Wie alles zwischen uns.
»Nichts«, antwortete ich. »Ich muss aufhören. Ich melde mich später wieder, okay?«
»Klar. Bis dann, man sieht sich.«
Ich legte auf, ließ die Hand allerdings auf dem Hörer liegen, während ich noch ein paar Münzen aus der Tasche holte. Dann atmete ich tief durch, hielt den Hörer an mein Ohr, warf einige der Münzen in den Schlitz und wählte. Diese Person – das wusste ich – würde nur zu gern mit mir reden.
»Ruby?«, sagte Peyton, sobald sie meine Stimme hörte. »Wahnsinn! Endlich! Was ist mit dir passiert?«
»Nun ja . . .«, begann ich.
Doch sie quasselte bereits weiter; die Worte schwappten an mein Ohr wie ein Wasserschwall. »Ich habe auf dem Schulhof auf dich gewartet, wie immer, aber du bist nicht aufgetaucht. Deshalb dachte ich zuerst, du wärest vielleicht sauer auf mich, aber dann erzählte Aaron, die Bullen hättendich mitten aus dem Unterricht geholt, ohne dass jemand wusste, weswegen. Ich bin bei dir daheim vorbeigefahren, war aber alles dunkel, und –«
Ich unterbrach sie. Nicht weil ich ihr das Wort abschneiden wollte, eher aus Zeitmangel. Denn Peyton neigte dazu, alles sehr weitschweifig zu erzählen, selbst wenn man die Geschichte genauso gut kannte wie sie. »Alles okay so weit. Ist was Familiäres. Ich wohne jetzt eine Zeit lang bei meiner Schwester.«
»Nur damit du’s weißt: Bei uns an der Schule wird über nichts anderes mehr geredet«, antwortete sie. »Die Gerüchteküche brodelt, aber so was von.«
»Ach ja?«
»Ja, echt ätzend.« Sie klang geradezu schockiert. »Was du angeblich getan haben sollst . . . Man vermutet so ziemlich alles, von Mord bis Prostitution.«
»Ich bin doch erst seit zwei Tagen weg«, antwortete ich.
»Natürlich habe ich die ganze Zeit über zu dir gehalten«, fügte sie rasch hinzu. »Habe allen versichert, du würdest niemals für Geld mit irgendwem schlafen. Ich meine, also bitte.«
Typisch Peyton. Verteidigte glühend meine Ehre, ohne zu merken, dass sie mir – gleichzeitig und unausgesprochen – einen Mord anscheinend durchaus zutraute. »Danke, nett von dir«, sagte ich.
»Kein Thema.« Im Hintergrund hörte ich Stimmen. Den Geräuschen nach zu urteilen, befand sie sich auf der kleinen Lichtung im Wäldchen hinter der Schule, wo wir nach Unterrichtsschluss immer abhingen. »Aber was steckt denn nun dahinter? Geht es um deine Mutter?«
»So was in der Art«, antwortete ich. »Wie gesagt, ist nicht weiter tragisch.«
Peyton war meine beste Freundin an der Jackson Highschool, doch genau wie der Rest der Menschheit hatte sie keinen Schimmer, dass meine Mutter abgehauen war. Sie hatte sie nicht einmal kennengelernt, was allerdings kein Zufall war. Denn ich hatte es mir zur Regel gemacht, mein Privatleben so zu gestalten, wie der Name schon sagt: privat. Was vor allem bei jemandem wie Peyton, die aus einer Vorzeigefamilie stammte, ziemlich wichtig war: reich, halbwegs normal und anständig, also nicht psychisch oder sonst irgendwie gestört. Man wohnte in einem großen Haus in den
Arbors,
und bis letztes Jahr war Peyton das ideale, wohlanständige Töchterchen gewesen, mit lauter Einsen und einem Stammplatz in der Schulhockeymannschaft. Doch während der Sommerferien hatte sie eine Beziehung mit meinem Freund Aaron angefangen, einem harmlosen, jedoch begeisterten Graskonsumenten. Im Herbst wurde sie in der katholischen Privatschule, auf die sie damals noch ging – St. Micheline –, mit einem Joint erwischt und höflich, aber bestimmt
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