About Ruby
Krankheiten, Gene, Haare, Augenfarbe. Als wären sie Teil deiner Matrix, deines eigenen Bauplans. Wenn mit dir etwas nicht stimmt, kannst du es in der Regel auf sie zurückführen.«
Ich nickte, schrieb weiter mit.
»Doch genauso, wie du die Verbindung zu ihnen nicht kappen kannst, so hängen sie auch mit dir zusammen, ohneChance zu entkommen. Deshalb sitzen sie bei Taufen und Beerdigungen immer in der ersten Reihe. Weil sie von Anfang bis Ende dabei sind, egal ob es einem passt oder nicht.«
Egal ob es einem passt oder nicht
, notierte ich. Betrachtete dann, was ich geschrieben hat, den letzten Satz und die anderen davor. Viel war es nicht, doch immerhin ein Anfang. »Okay«, meinte ich. »Und jetzt zu deinem Begriff.«
In dem Moment klingelte es allerdings. Sofort entstand das übliche Chaos und Getöse zu Beginn jeder Pause: Stühle wurden durch die Gegend geschoben, Rucksackreißverschlüsse zugerupft, lautes Stimmengewirr ertönte. Ms Conyers sagte zwar noch etwas in dem Sinne, wir sollten bis zum nächsten Tag mindestens vier Erklärungen für unseren Begriff gesammelt haben. Doch wegen des Lärms konnte ich sie kaum verstehen. Olivia hatte bereits ihr Handy rausgeholt, aufgeklappt, auf die Schnellwahltaste gedrückt. Ich verstaute mein Notizbuch. Sie stopfte ihr Taschentuch in die Tasche, strich mit der Hand ihre Dreads zurück, stand auf.
»Sie heißt Melissa«, sagte ich in dem Moment, als sie sich zum Gehen wandte.
Sie blieb abrupt stehen, ließ langsam das Handy sinken, sah mich an. »Bitte was?«
»Die Blondine mit dem Arschgeweih. Melissa West.« Ich schnappte mir meine Tasche. »Sie ist in der zweiten Jahrgangsstufe. Voll der Abschaum, die Frau. Spielt übrigens Fußball, kein Hockey.«
Um uns herum schoben sich unsere lieben Mitschüler Richtung Tür, doch Olivia stand einfach nur da und starrte mich an. Ihr schien nicht einmal aufzufallen, dass Heather Wainwright im Vorbeigehen einen neugierigen Blick auf ihre rot geweinten Augen warf.
»Melissa West«, wiederholte Olivia.
Ich nickte.
»Danke.«
»Kein Thema«, erwiderte ich. Langsam hob sie ihr Handy wieder ans Ohr und ging davon.
***
Als ich an jenem Nachmittag nach der letzten Stunde aus dem Schulgebäude kam, stand Jamie davor und wartete auf mich.
Er lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an seinem Auto, das er direkt vorm Haupteingang geparkt hatte. Als ich ihn bemerkte, blieb ich stehen und ließ die anderen aus dem Pulk, in dem ich mich zufällig befand, lachend und schwatzend auf beiden Seiten an mir vorbeiziehen. Vielleicht litt ich ja schon unter Verfolgungswahn; aber das letzte Mal, als mich jemand unverhofft von der Schule abholte, hatte dieser Jemand keine guten Nachrichten für mich gehabt.
Doch nachdem ich innerlich all die Vergehen aufzählte, bei denen ich möglicherweise erwischt worden sein könnte, fiel mir auf: Es gab gar keine. In letzter Zeit hatte ich nichts weiter getan, als zur Schule oder zur Arbeit zu gehen und zu lernen. Nicht einmal am Wochenende war ich um die Häuser gezogen, wie früher. Trotzdem rührte ich mich nicht vom Fleck. Zögerte wahrscheinlich aus purer Gewohnheit weiterzugehen. Bis die Leute vor mir in ihre verschiedenen Richtungen davongegangen waren. Und Jamie mich von sich aus bemerkte.
»Hallo«, rief er und hob grüßend die Hand. Ich winkte zurück, schlang den Riemen meines Rucksacks fester um meine Schulter, ging auf ihn zu. »Arbeitest du heute?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Bestens. Ich muss nämlich etwas mit dir besprechen.«
Er trat zurück, öffnete die Beifahrertür für mich. Nachdem ich eingestiegen war, zwang ich mich, tief durchzuatmen, während ich Jamie dabei beobachtete, wie er vorne um die Motorhaube lief, einstieg, sich neben mich setzte. Doch den Motor ließ er nicht an. Blieb einfach bloß so sitzen.
Schlagartig begriff ich. Er überlegte, wie er mir beibringen sollte, dass ich wieder gehen musste. Klar. In dem Moment, da ich mir gestattete, mich ein bisschen zu entspannen, waren sie zu dem Schluss gelangt, dass sie die Nase von mir voll hätten. Und was noch schlimmer war: Mir wurde bewusst, dass ich nicht fortwollte. Was ich daran merkte, dass ich angespannt die Luft anhielt.
»Es geht um Folgendes«, begann Jamie. Mein Herz schlug wie wild. »Thema College.«
Das letzte Wort – College – landete mit einem dumpfen Aufprall in meinen Ohren. So unerwartet, als hätte er Minnesota oder Brathähnchen gesagt. »College«, wiederholte
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