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About Ruby

About Ruby

Titel: About Ruby Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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außerdem keine Ahnung, ob das überhaupt je noch einmal im Bereich des Möglichen sein würde. Trotzdem wäre es wichtig gewesen, das Gefühl zu haben, dass jemand nach einem suchte   – selbst wenn man gar nicht gefunden werden wollte.
    Was ist Familie
?, hatte ich an jenem ersten Tag in mein Notizbuch geschrieben. Als ich es nun aufschlug, stellte ich fest, dass der Rest der Seite leer war bis auf die Definition, die ich mir aus dem Lexikon herausgesucht hatte   –
Beziehungsgeflecht, insb. zwischen Eltern und Kindern
. Sechs Wörter, davon eins auch noch eine Abkürzung. Wenn es doch wirklich so einfach gewesen wäre.
    Nachdem Ms Conyers uns also aufgefordert hatte loszulegen, wandte ich mich als Erstes an Olivia. Allerdings wirkte sie nicht so, als hätte sie große Lust darauf, sich zu unterhalten. Sie hing mit rot umränderten Augen schief und krumm auf ihrem Stuhl, umklammerte mit der einen Hand ein Taschentuch und zog mit der anderen die Jacke mit dem Jackson-Logo, die sie eigentlich immer trug, enger um sich.
    »Aber denkt dran, dass ihr nicht bloß danach fragen solltet, was euer Begriff wörtlich bedeutet«, meinte Ms Conyers gerade, »sondern vor allem auch für den Menschen, mit dem ihr gerade sprecht. Scheut euch nicht davor, persönlich zu werden.«
    In Anbetracht der Tatsache, dass Olivia nicht einmal an ihren
guten
Tagen besonders zugänglich war, beschloss ich, die Sache lieber anders anzupacken. Allerdings bestand meine einzige Alternative darin, mit Heather Wainwright zu reden, die auf meiner anderen Seite saß. Und obwohl siesich gerade ebenfalls nach einem Gesprächspartner umschaute, war ich mir nicht sicher, ob ich mich ausgerechnet auf sie einlassen wollte.
    »Na? Ziehen wir das jetzt zusammen durch oder nicht?«
    Ich wandte mich wieder Olivia zu. Sie blickte immer noch stur geradeaus   – als hätte sie keinen Mucks von sich gegeben. »Ja . . .?« Während ich das sagte, blickte ich vielsagend auf das zerknitterte Taschentuch in ihrer Hand. Worauf sie es noch mehr zusammenknüllte, bis es in ihrer Faust verschwand. »Okay. Also was bedeutet für dich ›Familie‹?«, fragte ich schließlich.
    Seufzend rieb sie sich die Nase. Um uns herum waren alle eifrig am Schnattern, doch Olivia hüllte sich in Schweigen. Bis sie unvermittelt mit einer Gegenfrage antwortete: »Kennst du Micah Sullivan?«
    »Wen?«
    »Micah Sullivan«, wiederholte sie. »Abschlussklasse? Mitglied der Football-Mannschaft? Bester Kumpel: Rob Dufresne?«
    Erst als sie den zweiten Namen nannte, begriff ich, dass sie von Leuten auf der Jackson High redete. Im zweiten Highschool-Jahr hatten Rob Dufresne und ich in Bio am selben Tisch gesessen. »Micah . . .«, sagte ich und versuchte, mich zu erinnern. Die Gesichter meiner Schulkameraden von der Jackson verschwammen bereits alle zu einem großen, unklaren Gebilde. »Ziemlich kleiner Typ?«
    »Nein«, fauchte sie. Schulterzuckend nahm ich meinen Stift in die Hand. Doch dann fuhr sie fort: »Na ja, kleiner als einige andere ist er schon.«
    »Und fährt einen blauen Bus?«
    Endlich sah sie mich an. »Ja«, erwiderte sie langsam. »Das ist er.«
    »Ich kenne ihn nicht direkt, nur vom Sehen.«
    »Hast du je mitgekriegt, dass er mit diesem Mädchen rumgezogen ist? In der Schule, meine ich.«
    Ich überlegte einen Moment. Doch alles, was mir in den Sinn kam, war Rob Dufresnes kalkweißes Gesicht, als wir Frösche sezieren mussten. »Ich kann mich nicht bewusst erinnern«, antwortete ich. »Aber wie du selbst mal sagtest: Die Jackson High ist riesig.«
    Darüber schien sie kurz nachzudenken. Wandte sich mir dann jedoch frontal zu: »Du hast ihn also nie mit dieser Hockeyspielerin zusammen gesehen? So ’ne Blonde mit Arschgeweih. Minda oder Marcy oder so ähnlich?«
    Ich schüttelte den Kopf. Sie musterte mich einen Augenblick lang eindringlich, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie mir trauen könnte. Drehte den Kopf wieder nach vorn, zog ihre Jacke noch enger um sich. »Familie«, verkündete sie schließlich. »Die Leute in deinem Leben, bei denen du keine Wahl hast. Die dir einfach aufgedrückt werden, im Gegensatz zu denen, die man sich selbst aussuchen darf.«
    Ich war in Gedanken noch bei Micah und der Hockeyspielerin, doch als mir bewusst wurde, dass Olivia aufgehört hatte zu reden, schrieb ich hastig mit. »Okay«, meinte ich. »Was noch?«
    »Man ist blutsverwandt«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. »Wodurch man mehr miteinander gemeinsam hat als mit anderen.

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