About Ruby
schon der Gedanke daran, mich zu bewerben, Angst einjagte: Wieder würde eine Verbindung entstehen, eine Art Zugehörigkeit, und das genau zu einem Zeitpunkt, wo ich das exakte Gegenteil anstrebte. Zugegeben, ich hatte mich dazu durchgerungen, so lange wie nötig hierzubleiben, aber nur, weil ich keine andere Wahl hatte. Wenn ich tatsächlich aufs College ging – und zwar mit seiner und Coras Unterstützung, worauf es ja hinauslief –, stände ich noch mehr in ihrer Schuld, sowohl wörtlich als auch im übertragenen Sinne. Dabei wollte ich gerade jetzt endlich frei sein, ungebunden, unabhängig, niemandem nichts schulden.
Doch während ich so dasaß und vor mich hinstarrte, wusste ich, dass ich ihm genau das nicht sagen konnte. Deshalb meinte ich stattdessen: »Also bereust du wahrscheinlich nichts, oder? Ich meine, dass du nicht nach New York gegangen bist, wie du es ursprünglich vorhattest.«
Jamie lehnte sich zurück und seinen Nacken an die Kopfstütze. »Doch, manchmal schon. Zum Beispiel an einem Tag wie heute, wenn ich mich mit dieser neuen Werbekampagne herumschlagen muss, was mich schier wahnsinnig macht. Oder wenn alle im Büro rumjammern und ich dasGefühl habe, mein Kopf explodiert jeden Augenblick. Aber das geht vorbei, es sind bloß kurze Momente. Außerdem: Wenn ich nicht hier aufs College gegangen wäre, hätte ich deine Schwester nicht kennengelernt. Und alles wäre sowieso anders geworden.«
»Stimmt«, antwortete ich. »Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?«
»Tja, an dem Punkt kommt die Böse wieder ins Spiel.« Er grinste, blickte aufs Steuerrad, fuhr fort: »In der Geschichte macht sie leider keine allzu gute Figur.«
Er hatte mich neugierig gemacht, wie ich leider zugeben musste. »Warum nicht?«
»Weil sie mich angebrüllt hat«, erwiderte er lakonisch. Ich hob die Augenbrauen. »Okay, sie behauptet immer, sie hätte nicht gebrüllt, sondern nur sehr entschieden gesprochen. Aber sie
hat
die Stimme erhoben. Das steht fest.«
»Und warum hat sie dich angebrüllt?«
»Weil ich eines Nachts vor dem Studentenwohnheim auf den Stufen gehockt und Gitarre gespielt habe. Wenn man Cor bei ihrem Schönheitsschlaf stört, reagiert sie ziemlich allergisch, das hast du doch schon gemerkt.« Hatte ich nicht, nickte aber trotzdem. »Ich sitze also nichts ahnend da, ein frischgebackener Student in der ersten Woche des Semesters, klimpere stillvergnügt vor mich hin, es ist ein lauer Spätsommerabend – und plötzlich reißt dieses Mädchen ihr Fenster auf und macht mich fertig.«
»Tatsache.«
»Absolut. Sie rastete förmlich aus. Ich sei total rücksichtslos, würde die Leute durch meinen Krach vom Schlafen abhalten. So hat sie es genannt. Krach. Und das mir. Schließlich hielt ich mich damals für einen echten Künstler.« Er schüttelte belustigt den Kopf.
»Dafür scheinst du das Ganze aber ziemlich locker zu sehen«, meinte ich.
»Das war ja bloß der erste Abend«, meinte er. »Ich kannte sie schließlich noch gar nicht.«
Schweigend blickte ich auf meinen Rucksackriemen, ließ ihn durch meine Finger gleiten.
»Ich glaube, was ich damit sagen will«, fuhr Jamie fort, »ist, dass selten etwas perfekt ist, vor allem zu Beginn nicht. Außerdem ist es kein Beinbruch, wenn man ab und zu auch mal etwas bereut. Erst wenn das zum Dauerzustand wird und man nichts dagegen machen kann . . . dann wird’s schwierig.«
Durch die Fensterscheiben des Wagens drang gedämpft Gelächter: Die Mädchen mit den Hockeyschlägern amüsierten sich über irgendetwas. »Zum Beispiel, wenn man sich nicht fürs College bewirbt, aber später wünscht, man hätte es getan?«
Er lächelte. »Erwischt. Subtilität ist nicht meine größte Stärke. Also – können wir uns darauf einigen oder nicht?«
»Einigen? Nein«, erwiderte ich. »Aber ich mache, was du möchtest.«
»Nicht nur«, konterte er. »Du bekommst auch etwas zurück, wie bei jedem guten Deal.«
»Okay«, antwortete ich. »Eine Chance. Eine Gelegenheit, die ich sonst nicht hätte.«
»Und noch etwas anderes.«
»Was denn?«
»Wart’s ab.« Er streckte die Hand aus, um den Motor anzulassen. »Du wirst schon sehen.«
***
»Ein Fisch?«, fragte ich. »Im Ernst?«
»Logo!« Jamie grinste. »Was willst du mehr?«
Es war vermutlich ratsam, darauf nicht zu antworten, daher schwieg ich. Richtete meine Aufmerksamkeit stattdessen wieder auf das runde Bassin zwischen uns, im dem lauter weiße Koi-Karpfen ihre Runden drehten. Um uns
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