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About Ruby

About Ruby

Titel: About Ruby Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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ihn zu drehen, hörte ich, wie sie aufstand und zu mir trat.
    »Ruby, sieh mich an«, sagte ich. Ich rührte mich nicht. Spürte den kalten Luftzug, der durch den schmalen Türspalt drang. »Ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht, als dich zu finden. Während meines Studiums und auch hinterher . . . Ich wollte dich immer schon da rausholen.«
    In dem Moment hielt Nate am Bordstein. Perfektes Timing. »Du bist ausgezogen, um aufs College zu gehen.« Ich wandte mich zu ihr um. »Und nie wiedergekommen. Du hast weder angerufen noch geschrieben noch dich an den Feiertagen gemeldet   –«
    »Glaubst du das wirklich?«, fragte sie drängend.
    »Das ist alles, was ich weiß.«
    »Du irrst dich«, erwiderte sie. »Denk doch mal nach. Wie oft ihr umgezogen seid, in wie vielen Wohnungen ihr gehaust habt. Jedes Mal eine neue Schule. Die vielen Jobs, die sie angefangen und wieder geschmissen hat, fast nie ein Telefon, und wenn überhaupt, dann nicht unter ihrem richtigen Namen. Hast du dich nie gefragt, warum sie bei deinen Schulanmeldungen immer falsche Adressen angab? Glaubst du, das war Zufall? Hast du eine Ahnung, wie schwer sie es mir gemacht hat, dich zu finden?«
    »Du hast es doch gar nicht versucht!« Und jetzt hörte man
meiner
Stimme an, wie aufgewühlt ich war; laut und zitternd stieg sie in die Höhe, in den riesigen Raum über uns.
    »Doch!«, konterte Cora. Von draußen hörte ich gedämpftesHupen: Nate wurde ungeduldig. »Jahrelang habe ich es versucht. Sogar noch, als sie meinte, ich solle endlich aufhören. Behauptete, du wolltest nichts mit mir zu tun haben. Obwohl du all meine Briefe und Nachrichten ignoriert hast . . .«
    Ich versuchte zu schlucken. Meine Kehle fühlte sich trocken, rau, richtig hart an.
    ». . . gab ich nicht auf. Habe immer wieder versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen. Bis zur Hochzeit. Sie schwor, sie würde dir die Einladung geben, dir überlassen, ob du kommen möchtest oder nicht. Zu dem Zeitpunkt hatte ich ihr angedroht, vor Gericht zu gehen, damit ich dich sehen durfte, was sie natürlich um jeden Preis verhindern wollte. Deshalb hat sie es mir versprochen. Sie hat’s
versprochen
, Ruby. Aber sie brachte es nicht über sich. Stattdessen riss sie dich wieder aus deinem Leben, zog zum x-ten Mal mit dir um. Sie hatte solche Angst vorm Alleinsein. Solche Angst, dass du auch weggehen würdest. Deshalb hat sie dir nie die Chance gegeben, dich selbst zu entscheiden. Bis zu diesem Jahr. Sie wusste, dass du, sobald du achtzehn wärest, offiziell ausziehen könntest. Und höchstwahrscheinlich auch würdest. Was tat sie also?«
    »Hör auf!«
    Cora hörte natürlich nicht auf: »Sie hat
dich
verlassen. Sie hat dich in dieser miesen, schäbigen Absteige sitzen lassen, ehe du ihr zuvorkommen konntest.«
    Ich spürte, wie etwas in meinem Hals hochstieg, unaufhaltsam   – ein Schluchzer, ein Schrei   –, und drückte es gewaltsam weg. Konnte jedoch nicht verhindern, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Hasste mich dafür, dass ich Schwäche zeigte. »Du hast keine Ahnung, wovon du redest«, sagte ich.
    »Doch, hab ich.« Und jetzt klang ihre Stimme ganz weich. Sanft. Traurig. Als täte ich ihr leid, was nun das Peinlichste und Beschämendste überhaupt war. »Das ist es ja gerade. Ich weiß genau, wovon ich rede.«
    Wieder hupte Nate, dieses Mal noch lauter und länger. »Ich muss echt los.« Ich riss die Tür auf.
    »Warte«, rief Cora. »Geh nicht einfach   –«
    Doch ich stürzte bereits aus dem Haus, zog die Tür hinter mir zu. Ich wollte nicht mehr reden. Ich wollte gar nichts, außer meinem Frieden und meiner Ruhe. Allein sein, still sein, um zu verarbeiten, was gerade geschehen war. Es hatte in meinem Leben in den letzten Jahren so wenige Konstanten gegeben, auf die ich mich verlassen konnte   – bis auf diese eine, die Geschichte meiner Familie. Was mit uns passiert war. Das hatte immer festgestanden, war als allgemeingültige Wahrheit akzeptiert worden. Doch nun war ich mir dessen nicht mehr so sicher. Was macht man, wenn die Familie außer einem selbst bloß aus zwei Personen besteht, man keiner der beiden wirklich vertrauen kann und jetzt trotzdem, auf einmal, einer von beiden auf Gedeih und Verderb glauben muss?
    Ich hörte, wie sich die Haustür hinter mir wieder öffnete. »Ruby«, rief Cora. »Warte doch mal, wir können das nicht einfach so stehen lassen.«
    Aber auch das entsprach nicht der Wahrheit. Natürlich konnten wir. Abhauen war leicht. Schwer war nur alles

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