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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Abschaffel. Er machte einen kleinen Umweg, damit er am Schreibtisch des Verkehrsreferenten vorbeikam, und legte den Ordner genau an dieselbe Stelle zurück, wo er ihn am Abend weggenommen hatte. Es war gut, daß er so früh gekommen war. Schon zwei Minuten später betrat Fräulein Schindler das Büro. Sie grüßte kurz und setzte sich an ihren Schreibtisch. Abschaffel wunderte sich. Hatte sie, wie er, auch etwas zu verbergen oder etwas zurechtzubiegen? Er hatte zu Fräulein Schindler so gut wie keinen Kontakt. Sie beachtete ihn nicht, und sie begann mit ihm keine Gespräche. Sie war neunzehn oder zwanzig Jahre alt, und Abschaffel war für sie ein Mensch ohne Bedeutung, weil sich seine Zukunft niemals mit ihrer Zukunft kreuzen konnte. Offenbar hatte sie instinktiv erkannt, daß er alle ihre Selbstüberschätzungen, die einen großen Teil ihres Verhaltens ausmachten, nicht stützen konnte und daß er deshalb nicht in den Kreis derer gehörte, mit denen sie gerne redete. Sie füßelte und trippelte mit ihren kleinen Füßen um ihren Schreibtisch herum. Wenn sie redete, redete sie meistens vom Schlankwerden. Wegen Hungerns war sie schon zweimal zusammengebrochen, einmal in ihrer Küche und einmal im Bad. Als sie zum erstenmal umkippte, hatte sie sechsundvierzig Kilo gewogen. Inzwischen wog sie fünfzig Kilo, und fünfzig Kilo hatte sie schon öfter ihr Idealgewicht genannt. Morgens aß sie im Büro ein Stück Knäckebrot, mittags einen Becher Buttermilch, abends zwei Stückchen Knäckebrot und einen Joghurt. Nachmittags jammerte sie manchmal leise vor Hunger. Den Zusammenbruch im Bad hatte sie damals im Büro erzählt; sie riß ein Wandbord, an dem sie sich festhalten wollte, mit sich, und eine Menge Zeug fiel in die Badewanne, so daß sie gleich erschrak und nicht ohnmächtig werden konnte. Um noch besser abnehmen zu können, trank sie jeden Morgen gegen zehn Uhr eine Tasse Blasentangtee, ein furchtbares Getränk, das stank wie fauler Fisch, aber angeblich regte dieser Tee die Tätigkeit der Schilddrüse an, und nach Auskunft von Fräulein Schindler verbrannte die Schilddrüse unter dem Einfluß des Blasentangtees die Speisen noch schneller als sonst. Einmal hatte sie Frau Schönböck überredet, ebenfalls eine Tasse Blasentangtee zu trinken. Frau Schönböck hatte den Tee sofort erbrochen und trank nie mehr etwas davon.
    So, sagte sie plötzlich, und Abschaffel hörte es. Diese Geschichte habe ich hinter mir. Er gab ihr zu verstehen, daß er zuzuhören bereit war. Heute morgen habe ich meinem Freund den Laufpaß gegeben, sagte sie über mehrere Schreibtische hinweg in seine Richtung. Abschaffel schwieg. Er hat noch eine andere gehabt, sagte sie, und das kann man mit mir nicht machen. Sie wußte nicht, daß ihr Körper zu klein und zu mager war für den Ausdruck von Zorn. Weil sie trotzdem versuchte, zornig zu sein, war ihr Körper über die Maßen gerührt. Heute morgen habe ich ihm den Staubsauger zurückgebracht in sein Appartement, sagte sie; ich habe mich auf der Straße versteckt und habe gewartet, bis er das Haus verlassen hatte, dann bin ich in sein Appartement, habe den Staubsauger in die Mitte des Zimmers gestellt und habe mit Tesa einen kleinen Zettel drangehängt, auf dem stand: Wie man in den Wald hineinruft, so ruft es auch wieder heraus. Fräulein Schindler lachte kurz und legte sich die flache Hand auf den hinteren Teil ihrer Frisur, damit die Haare durch die leichten Erschütterungen des bewegten Umhergehens nicht durcheinandergerieten. Dann habe ich den Schlüssel zu seinem Appartement in seinen Briefkasten geworfen, sagte sie, und einen zweiten Zettel hinterher, auf dem draufstand, daß auch ich den Schlüssel zu meinem Appartement wiederhaben will. Denn man muß sich morgens in sein eigenes Gesicht sehen können; wenn ich das einmal nicht mehr kann, dann bin ich zu weit gegangen, sagte sie und setzte sich. Offenbar war sie mit ihren Erklärungen am Ende. Sind Sie deswegen heute so früh im Büro, fragte Abschaffel. Ja, sagte sie und lachte.
    Abschaffel war erleichtert. Er hatte schon geglaubt, Fräulein Schindler hätte ihm nachspioniert, weil die Sache mit der Studie vielleicht doch schon ruchbar geworden war. Es war halb acht geworden, und Fräulein Schindler schwieg. Sie ordnete mit heftigen Bewegungen ihren Schreibtisch. Abschaffel fühlte die Verpflichtung, etwas zu ihrer Geschichte zu sagen, aber schon an den Einzelheiten ihrer Geschichte hatte er erkannt, daß er nichts werde sagen können.

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