Abschaffel
Platz zu nehmen. Hornung stellte eine Flasche Wein und drei Gläser auf den Tisch. Abschaffel bemerkte, daß Hornung sich nicht recht traute, seine Frau an den Tisch zu bitten. Das dritte Glas war eine stumme Einladung. Frau Hornung erkundigte sich nach nichts. Wenn Hornung nicht gesagt hätte, daß er ein Kollege von ihm war, dann hätte sie die Ungeklärtheit des Besuchers auch nicht gestört. Ihre Haltung schien immer zu fragen: Was konnte mit ihm, Abschaffel, schon los sein, wenn er einen solchen Versager wie ihren Mann besuchte? Abschaffel wunderte sich, daß weder Hornung noch seine Frau den Kindern sagten, daß sie den Fernsehapparat ausschalten sollten. Erst nach einiger Zeit erkannte er, daß die vier Mitglieder der Familie Hornung darin trainiert waren, in ein und demselben Raum sowohl paarweise fernzusehen als auch paarweise miteinander zu sprechen. Je eindeutiger sich Frau Hornung dem Fernsehen widmete, desto rascher legte sich die anfängliche Unruhe der Unterhaltung zwischen Abschaffel und Hornung. Sie sprachen leise über die bevorstehende Einführung der Gleitzeit im Betrieb. Abschaffel selbst war es gleichgültig, ob die Gleitzeit eingeführt wurde oder nicht. Daß Mörst das durchsetzt, hätte ich ihm nicht zugetraut, sagte Hornung mit Lob in der Stimme. Ich auch nicht, sagte Abschaffel. Und wie hat sich Ajax gesträubt, sagte Hornung etwas lauter; ist ja klar, sagte er, die ganze Geschichte bringt ihm nur Kosten, er muß Steckapparate anschaffen und sie installieren lassen, er muß jedem einen Fotoausweis machen lassen, und er muß jemand einstellen für die laufende Überwachung und Bearbeitung. Das wird Ajax nicht tun, sagte Abschaffel, er wird die Arbeit einfach jemandem aufhalsen. Und wer soll das sein? fragte Hornung. Weiß ich nicht, antwortete Abschaffel, ich verspreche mir sowieso nichts davon. Ja, Sie, sagte Hornung, Sie sind allein, Sie haben kein Kind und kein Rind. Darauf kommt es in diesem Zusammenhang auch nicht an, antwortete Abschaffel; ich meine, die Arbeitszeit wird ja nur ein bißchen hin- und hergeschoben, aber an der Dauer selbst ändert die Gleitzeit ja nichts. Sicher, sagte Hornung, aber trotzdem sind Vorteile dabei; wenn Sie Familie haben wie ich und einmal über das Wochenende mit den Kindern und der Frau wegwollen, dann ist es ein Unterschied, ob ich samstags losfahre wie alle, oder ob ich die Woche über einen halben Tag vorschaffen und dann schon am Freitagmittag abhauen kann, sagte Hornung. Das stimmt, sagte Abschaffel. Eben, sagte Hornung, Prost. Und beide hoben sie die Gläser.
Abschaffel hatte keine Lust, weiter über dieses Thema zu reden, aber Hornung kam noch einmal darauf zurück. Seine Frau war gerade aus dem Zimmer gegangen, und Hornung beugte sich zu ihm herüber. Und wenn die Gleitzeit nur dazu gut ist, sagte er, daß man morgens, wenn die Kinder in der Schule sind, endlich mal wieder in aller Ruhe seine Frau stoßen kann. Hornung lachte still, und Abschaffel lachte mit und verachtete sich dafür. Frau Hornung kam zurück und setzte sich in den Sessel. Ich hab hier was mitgebracht, sagte Abschaffel und legte die Hand auf den DIN-A 4-Umschlag, in den er die Studie gesteckt hatte. So, machte Hornung. Eben noch wollte Abschaffel wahrheitsgemäß mitteilen, daß er die Studie vom Schreibtisch des Verkehrsreferenten mitgenommen hatte, um sie heimlich mit Hornung zu lesen. Aber dann log er eine Geschichte zusammen, von der er selbst vor fünf Minuten noch nichts gewußt hatte. Ajax hat eine Umfrage veranstaltet, aber ich bin nicht gefragt worden, sagte er. Was? fragte Hornung. Ja, sagte Abschaffel. Das ist ja ein Ding, sagte Hornung. Find ich auch, sind Sie denn befragt worden? Ja, sagte Hornung, zwei Mädchen waren im Büro, vor etwa drei Wochen oder so. Aber mich haben sie nicht befragt, sagte Abschaffel. Hatten Sie an diesem Nachmittag Hallendienst oder was? Vielleicht, aber irgendwann ist man ja wieder an seinem Schreibtisch. Meinen Sie, Ajax hat Sie absichtlich nicht fragen lassen? Nein, das glaube ich nicht, sagte Abschaffel, mein Gott, es ist mir auch nicht so wichtig. Beschweren Sie sich doch bei Mörst, sagte Hornung. Um Gottes willen, machte Abschaffel.
Er schämte sich und redete weiter. In jedem Augenblick wußte er, daß er log, und in keinem Augenblick wußte er, warum er log, auch noch so sinnlos und peinigend. Hornung schien sich nicht besonders für die Studie zu interessieren. Abschaffel sprach plausibel klingende, aus dem Nichts gegriffene
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