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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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öfter zu ihm hin und half ihm sogar, wenn er konnte. Mörst war fast der einzige, der mit ihm noch etwas zu tun hatte. Die anderen trauten sich nicht, ihm nahe zu kommen, weil Gersthoff im Grunde jeden Augenblick vom Stuhl kippen konnte. Und niemand wollte derjenige sein, der ihn aufheben mußte. Gersthoff erzählte selbst in der Firma herum, daß er überhaupt nichts mehr wußte. Wenn er etwas erzählte, dann waren es Kurerlebnisse. Vier Wochen lang hatte er nur Diätkost bekommen, aber im Dorf hatte es Busunternehmen gegeben, die die geschwächten Kurgäste abholten und in nahe Gastwirtschaften transportierten. Dort aßen sie Sauerbraten und Knödel und tranken Bier dazu. Ich habe zwar einen Herzinfarkt, aber blöd bin ich nicht, sagte Gersthoff mit wackelndem Kopf.
    Mein lieber Mann, sagte Ronselt bedenklich und leise. Abschaffel war ganz in sich versunken. Er verachtete sich, weil er den Stadtstreicher verraten hatte, und er meinte, noch die Schuld für den Stacheldraht übernehmen zu müssen. Er verachtete Hornung, und er verachtete Gersthoffs Kurgeschwätz. Seine Verachtung drehte ganz kleine Kreise in ihm; es war wie eine allgemeine Zusammenrottung des Unglücksgefühls. Die Vorstellung, es hier nicht mehr aushalten zu können, war wie eine Bohrung im Kopf. Und er hielt freiwillig den Kopf still, damit die Bohrung gut gelang. Er bemühte sich, nichts mehr hören zu müssen, und es gelang ihm nicht. Der Anblick des Stadtstreichers hatte das allgemeine Bürogespräch an einen beliebten Punkt hingetrieben: wie leicht man sich aller Sorgen entledigen könne, wenn man sich durch eine einmalige, gut durchdachte und erfolgreiche kriminelle Handlung ein für allemal ein ganz anderes Leben verschaffte. Es gab Kollegen, die bestimmte Betrugsgeschichten, von denen sie einmal in der Zeitung gelesen hatten, immer wieder nacherzählten. Und sie erzählten diese Geschichten so, daß eine Art von persönlicher Aneignung deutlich wurde; als sei von ihnen selbst eines Tages vielleicht auch ein intelligenter, feiner, gelungener Betrug zu erwarten. Ronselt redete mit Hochachtung von einem Mann, der im Bahnhofsviertel eine Kneipe eröffnet hatte. Vier Wochen nach Eröffnung der Kneipe wurde der Besitzer plötzlich von der Polizei abgeholt und verschwand in Untersuchungshaft. Die Kneipe wurde geschlossen. Nach weiteren fünf Wochen stellte sich heraus, daß der Kneipenbesitzer vor der Eröffnung seiner Bar eine Bank überfallen hatte und mit dem erbeuteten Geld bald danach seine Kneipe eröffnete. In der Untersuchungshaft gab er alles zu und unterschrieb eine Erklärung, daß er den von ihm angerichteten Schaden wiedergutmachen und das erbeutete Geld zurückerstatten wolle, und daraufhin kam er auf freien Fuß. Er durfte seine Kneipe wiedereröffnen und zahlte, wie er es versprochen hatte, in monatlichen Raten sein erbeutetes Anfangskapital zurück. Das war Ronselts Geschichte, und er erzählte sie mit Behagen. Aber da hätte er ja gleich zur Bank gehen und sich einen Kredit geben lassen können, sagte der Lehrling Hobler. Ha, rief Ronselt, das ist typisch Lehrling; vorher war der Mann ein stinknormaler Kellner gewesen, und als solcher kriegt er von seiner Bank genau das, was wir kriegen, nämlich einen Dispositionskredit, also zweitausend Mark, wenn es hochkommt, und dafür kann er sich vielleicht gerade zwei Barhocker und einen Garderobenhaken kaufen, und wissen Sie, rief Ronselt dem Lehrling Hobler zu, was heutzutage die Einrichtung einer großen Bar kostet? Es ist besser, wenn Sie es nicht erfahren, sonst brechen Sie vielleicht in Tränen aus.
    Abschaffel war durch das allgemeine Betrugsgespräch an seine eigene Abschweifungsphantasie erinnert worden, über die er allerdings niemals redete, noch nicht einmal mit Margot. Er stellte sich vor, daß er sich eines Tages mit einer jungen hübschen Nutte anfreunden und ihr fester Zuhälter werden könnte. Er würde zu Hause sein oder in der Stadt herumlaufen, das Mädchen ging anschaffen. Abends würden sie sich treffen, essen gehen und über alles sprechen. Nein, so weit trug ihn seine Vorstellung nicht, weil er sich in den Alltag einer solchen Geschichte gar nicht einfühlen konnte. In seiner Vorstellung kam noch nicht einmal das Wort Zuhälter vor. Seine Phantasie war so ungenau und schwärmend, daß sie ihm gar keine Einsichten in erwartbare Ereignisse gestattete. Es kam ihm immer nur auf einen Punkt an: daß er nicht mehr arbeiten mußte. Deswegen war er im Grunde schon

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