Abschaffel
Vermutungen über das Zustandekommen der Studie aus. Es war wie ein Zwang. Hatte ihn irgend etwas deprimiert? Schämte er sich, weil er sich überflüssig vorkam in dieser Familie? Wollte er sich hier wichtig machen? Endlich fragte Hornung, was denn bei der Studie herausgekommen war, und Abschaffel war froh, daß er mit dem Lügen aufhören konnte. Er zog den Text aus dem Umschlag und blätterte in den Seiten. Auf der Fahrt nach Höchst hatte er schon die wichtigsten Ergebnisse durchgelesen, und schon in der Bahn hatte er die Ergebnisse langweilig und nichtssagend gefunden. Auf der vorletzten Seite sind die Ergebnisse zusammengefaßt, sagte Abschaffel; hier, überraschend rangierte der Wunsch nach einer Uhr mit 64 Prozent vor Pflanzen mit 62,3 Prozent und Blumenvasen mit 50,8 Prozent, las er vor. Tatsächlich, sagte Hornung, die meisten wünschen sich eine Uhr? Ja, und je jünger sie sind, desto stärker wünschen sie sich eine. Aber es hat doch jeder eine Armbanduhr, sagte Hornung. Trotzdem, sagte Abschaffel, aber sie wollen auch eine große Uhr im Büro sehen. Dann fehlt nur noch die Feierabendsirene wie bei den Arbeitern, sagte Hornung, und Abschaffel lachte kurz. Am wenigsten gewünscht sind Abziehbilder, sagte Abschaffel, in Klammern 3,2 Prozent, dann Plüschtiere, in Klammern 3,0 Prozent, Jagdtrophäen, in Klammern 3,7 Prozent, Nippesfiguren, in Klammern 3,0 Prozent.
Na ja, sagte Hornung. Abschaffel klappte die Studie zu und steckte sie in den Umschlag zurück. Er hatte nicht mehr das Gefühl, etwas Kühnes vollbracht zu haben. Die Studie war langweilig und überflüssig. Der Tierfilm im Fernsehen war zu Ende, und eine Ansagerin kündigte den nächsten Beitrag an. Hornung und Abschaffel sahen nun auch auf den Bildschirm. Zweimal nacheinander ertönte ein Pausenzeichen, niemand rührte sich. Abschaffel fragte nach der Toilette, Hornung erhob sich und begleitete ihn zur Wohnzimmertür und zeigte ihm die Toilette. Für einige Augenblicke war Abschaffel allein auf dem Flur. Durch die Wohnzimmertür hörte er wieder das Geräusch von Fernsehstimmen. Zwei Bierkästen mit leeren Flaschen standen übereinander im Flur. Auf einer kleinen Kommode stand das Telefon, und es war eingenäht in eine Brokat-Imitation. Im Bad hingen, über der Wanne aufgereiht auf einer blauen Plastikkordel, ausgewaschene Brotplastikbeutel. Es waren die Beutel, in denen Hornungs Frühstücksbrote eingepackt waren. Wusch Frau Hornung tatsächlich Brotbeutel aus? Das Bad war so eng, daß sein Gesicht, als er auf der Toilettenschüssel saß, fast an die Tür heranreichte. An der Tür hingen aus Illustrierten ausgeschnittene, halb gelöste Kreuzworträtsel und Witze. Abschaffel sah auf den Boden. Er band sich die Armbanduhr ab, betrachtete sie eine Weile und band sie wieder an. Daran erkannte er endlich, daß er enttäuscht war. Er beschloß, nach Hause zu gehen. Er machte sich fertig und wusch sich die Hände. Auf dem Bord über dem Waschbecken standen zwei elektrische Zahnbürsten. Als Abschaffel sie sah, wandelte sich seine Enttäuschung in Hohn um. Diese Fernsehkrüppel, diese elenden, diese Wohnbüffel, schimpfte er still vor sich hin, als er sich die Hände abtrocknete. Sie sind kurz vorm Ersticken, aber sie nähen ihr Telefon ein und halten sich eine elektrische Zahnbürste in den Mund. Unwillkürlich gab er Hornung die Schuld an den Zuständen dieser Wohnung. Er bereute, Hornung besucht zu haben, und er ärgerte sich, daß er sich in ihm getäuscht hatte. Er hatte geglaubt, bei ihm zu Hause noch mehr von der Distanz zu spüren, die Hornung manchmal im Büro zeigte. Aber in der Wohnung gab es diese Distanz nicht, im Gegenteil, sie war eingehüllt in das Allgemeinste, in Bierkästen und Fernsehen, und zwei stumme Kinder saßen herum, die ihre Eltern vergessen zu haben schienen.
Abschaffel ging in das Wohnzimmer zurück. Es war kurz nach halb zehn. Hornung spielte mit einem elektrischen Taschenrechner. Im Fernsehen redeten drei Männer. Frau Hornung hatte den Platz gewechselt. Die beiden Kinder saßen halb im Sessel ihrer Mutter, halb auf der Mutter drauf. Eigentlich hatte sich Abschaffel sofort beim Eintritt in das Wohnzimmer verabschieden wollen, aber im Augenblick, als er die Familie Hornung sah, sank ihm der Mut, und er war gehemmt. Und er fürchtete, Hornung könnte bemerken, daß er im Bad den Entschluß zum Weggehen gefaßt hatte. Den hab ich mir vor drei Wochen gekauft, ein ausgezeichneter Rechner, sagte Hornung und zeigte seinen
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