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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Offenbar hatte sie sich zum erstenmal in ihrem Leben von einem Menschen getrennt. Und Abschaffel fühlte, daß sie in ihm einen schon älteren, erfahrenen Menschen sah, dem sie ein wichtiges Jugenderlebnis mitteilen konnte, und sicher erwartete sie, daß er sie und ihr Verhalten billigte.
    Er aber sagte gar nichts und stellte sich mit einigen Frachtbriefen in der Hand an die Fensterfront der Südseite und sah in den Lkw-Ladehof hinunter. Auf dem Eisenrost einer Kellerluke sah er einen älteren Mann liegen, der offenbar schlief. An den Sachen, die er um sich herumliegen hatte, erkannte Abschaffel, daß es ein Stadtstreicher war. Zwei oder drei vollgestopfte Plastiktüten lagen in der Nähe des Kopfes, dazu eine halbleere Flasche Wein und ein Stück Zeitung. Aus der Kellerluke, über deren Rost der Mann ausgebreitet lag, strömte die Nacht über verbrauchte Warmluft heraus. Vielleicht ist ihm schlecht geworden in dieser Luft, dachte Abschaffel. Die Warmluftluke lag in einer Innenausbuchtung des Ladehofs, so daß sie von den Arbeitern im Hof nicht einzusehen war. Abschaffel überlegte, daß der Stadtstreicher vielleicht schon öfter hier übernachtet haben konnte und bisher immer rechtzeitig aufgewacht war. Oder hatte er einen Freund, der ihn gewöhnlich weckte, der aber heute nicht erschienen war? Es war kurz vor acht. Mörst, der Betriebsrat, Frau Schönböck und Hornung betraten gemeinsam das Büro, gefolgt von den Kollegen aus der Buchhaltung. Abschaffel wollte etwas sagen, und vor allem wollte er bei Fräulein Schindler den Eindruck erwecken, er hätte zu ihrer Geschichte nur deswegen geschwiegen, weil er bereits mit einer anderen Geschichte beschäftigt gewesen war. Er rief alle, die im Büro waren, an die Südseite und zeigte ihnen den Penner. Seht euch das an, sagte er und wußte, wie falsch er sich verhielt. Obwohl er den Stadtstreicher nicht hatte verraten wollen, hörten sich seine Sätze an, als hätte er schon gegen ihn Partei ergriffen. Ich glaub, ich steh im Wald, sagte Mörst, so etwas hat es hier noch nie gegeben. Den verladen wir nach Hamburg und werfen ihn ins Meer, sagte Hornung und lachte. Wann haben Sie den entdeckt? fragte Mörst. Eben erst, vor einer Viertelstunde, sagte Abschaffel.
    Mörst verließ das Büro, Hornung folgte ihm. Abschaffel stand am Fenster und schämte sich. Er sah Mörst und Hornung den Innenhof betreten und auf den Penner zugehen. Frau Schönböck, Fräulein Schindler und drei Kollegen aus der Buchhaltung standen bei Abschaffel am Fenster. Mörst scheute vor dem liegenden Mann zurück. Hornung schob eine Schuhspitze unter einen Arm des Mannes, hob den Arm leicht hoch und ließ ihn fallen. Und diesen Idioten habe ich gestern abend besucht, dachte Abschaffel, und ich werde ihm nie sagen können, daß ich ihn für einen Idioten halte, weil er immer kurz vorher mein Mitleid entzündet, so daß ich ihm nichts sagen kann. Unheimlich langsam bewegte sich der Mann auf dem Eisenrost. Hornung kickte leicht an einen der Plastikbeutel. Der Mann erhob sich schwer und umständlich. Mörst und Hornung sahen zu, wie er seine Sachen an sich nahm und aus dem Hof schlurfte. Jetzt sahen ihn auch die Ladearbeiter, und sie hielten inne.
    Im Büro tippte Mörst eine Aktennotiz an Ajax. Er schlug vor, die Warmluftluken (es gab zwei von ihnen) mit einem Stacheldrahtverhau abzudecken. Abschaffel war noch einmal voller Reue. Wir sind ja kein Übernachtungsheim, rief Mörst und tippte. Mörst konnte nur im Rahmen der Vorschriften menschlich sein. Außerdem wollte er bei Ajax dokumentieren, daß er nicht nur gegen den Betrieb, sondern auch für den Betrieb handeln konnte, indem er ihm alle betriebsfremden Probleme vom Halse hielt. Seit gestern war Gersthoff wieder im Büro, und Mörst trug indirekt die Verantwortung für sein Wiedererscheinen. Nach seinem Schlaganfall mit Herzinfarkt war Gersthoff wochenlang im Krankenhaus gelegen. Wenn Mörst nicht gewesen wäre und die Kündigung nicht angefochten hätte, hätte Gersthoff dieses Büro nicht wieder betreten. So aber war er nach dem Krankenhausaufenthalt auch noch vier Wochen in Kur gefahren. Die Fürsorge hatte die Kosten übernommen, und für die Dauer seiner Krankheit hatte er eine Überbrückungsrente bekommen. Seine frühere Arbeit in der Lagerabteilung konnte Gersthoff nicht mehr ausführen. Ajax versetzte ihn in die Registratur, aber auch dort konnte er seinen Aufgaben kaum nachkommen. Er lebte zwar noch, aber sein Kopf war schon tot. Mörst sah

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