Abschaffel
Mund. Wenn er sie lange genug im Mund behielt, wurden sie ganz weich. Aber er behielt sie nicht lange im Mund, sondern biß sie in kleine Stücke, von denen er einige ausspuckte und einige andere verschluckte. Mußt du das jetzt machen, sagte Margot. Mein Gott, warum denn nicht, fragte er; du hast doch vorhin, als wir beim Griechen waren, auf Streichhölzer gebissen und hast kleine Holzsplitter ausgespuckt, und hab ich mich da vielleicht beschwert?
Margot erhob sich und zog sich an. Er sah zu, wie sie rasch ihre Unterwäsche anlegte und in die Schuhe schlüpfte. Die plötzlichen Vorbereitungen zum Weggehen regten ihn auf und beruhigten ihn zugleich. Margot kämmte sich im Flur. Er erinnerte sich schon wieder an seine Kindheit. Das überstürzte Verlassen von Zimmern und Wohnungen war in seiner Familie üblich gewesen. Margot sah ihn nicht an, während sie sich fertig machte. Er hatte die ganze Zeit das Gefühl, im Recht zu sein. Er beschloß, sich nicht von der Stelle zu rühren, solange sie bei ihm in der Wohnung war. Es war die Haltung eines Kindes, das Nichtverstehen bloß spielt. Für einige Augenblicke glaubte er es sich sogar selbst, daß er nichts verstand. Das war ganz herrlich. Er hatte für sich selbst schon lange ein System des abgestuften Verstehens erfunden, das er jetzt wieder anwandte. Es bestand darin, immer nur so viel zu verstehen, daß er vor sich selbst die Idee der Verletztheit nicht aufgeben mußte. Er glaubte, sogar eine Körperhaltung gefunden zu haben, um diesen Eindruck zu verstärken; er saß zusammengedrückt auf dem Bettrand, und sein krummer Rücken gehörte zum Bild eines Verurteilten, der noch nicht einmal die Anklage begreift. All seine Bemühungen machten auf Margot keinen Eindruck. Als sie fertig war, verließ sie wortlos die Wohnung. Nicht einmal die Türen schlug sie zu.
Abgeschwächt drangen die Geräusche von Margots Schritten noch zu ihm, dann war es vollkommen still. Abschaffel stand auf und fühlte sich gut. Er räumte die Gläser und die Flaschen weg, machte das Bett frisch und zog Unterhemd und Unterhose an. Er ging ins Bad und sah in den Spiegel. Margot hatte ihm vor einer Woche in die Schulter gebissen, und der Bißfleck war in seinem letzten Stadium angekommen. Abschaffel beugte sich über das Waschbecken und betrachtete den violett-bräunlichen Fleck, und er gefiel ihm. Er rechnete Margot den Fleck dankbar an. Noch einmal schob er den Halsausschnitt des Unterhemds zur Seite und betrachtete anerkennend den Fleck.
In der Küche strich er, weil ihn die Brotkrümel störten, mit der flachen Hand über den Tisch. Er klatschte die Hände zusammen, aber die Brotkrümel, die nun in seinem Handinneren klebten, fielen nicht restlos ab. Er ging noch einmal ins Bad zurück und wusch sich die Hände. Dabei drückte er die Brotkrümel in die Seife hinein. Er beschloß, sich ein Wurstbrot zu machen und ein Glas Bier zu trinken. Beim Öffnen des Eisschranks merkte er, daß er bald furzen mußte. Er glaubte, es werde ein leiser Kinderfurz, aber er war laut und knarrend. Abschaffel sah in der Küche umher, weil er einige Augenblicke lang dachte, jemand hätte seine Verfehlung gehört und würde ihn nun verurteilen. Dann lachte er, weil ihm der Einfall gekommen war, nur wenn man allein ist wie ich, darf man ein Wurstbrot essen und zugleich furzen. Er ging wieder ins Bad, stellte sich vor den Spiegel und sah sich beim Kauen zu. Es fiel ihm auf, daß er immer noch in Unterwäsche war. Er erinnerte sich an den Vater, der ganze Sonntagvormittage lang in Unterwäsche in der Wohnung herumgelaufen war. Als Kind hatte Abschaffel den Vater deswegen verachtet und sich gelobt, im Alter gegen den Vater vorzugehen. Die Mutter hatte ihn und die Geschwister sonntäglich hergerichtet, aber die Sonntagskluft der Kinder konnte gegen einen in Unterhose und Unterhemd umherschlurfenden Vater niemals zur Geltung kommen. Nach dem Frühstück verließen die Kinder die Wohnung, aber wenn sie zur Mittagszeit zurückkehrten, war der Vater noch immer nicht angezogen. Er setzte sich sogar im Unterhemd an den Mittagstisch. Abschaffel blickte auf seine nackten Beine und überlegte. Auf keinen Fall wollte er so werden wie sein Vater. Und doch glich er ihm in diesen Augenblicken, als hätte er die letzten zehn Jahre an seiner Nachahmung gearbeitet: In Unterwäsche stand er spätabends in der Wohnung herum und drückte sich ein schweres Wurstbrot in den Körper. Der einzige Unterschied bestand darin, daß der Sohn sein
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